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Mit dem erfolgreichen Abschluss der zulassungsrelevanten Studie zu Pritelivir bei schwer behandelbaren Herpes-simplex-Infektionen stärkt AiCuris aus Wuppertal seine Position im Bereich innovativer Antiinfektiva und treibt zugleich den Ausbau seiner US-Struktur voran. Nach dem Lizenzprodukt PREVYMIS könnte der Wirkstoff das zweite klinisch erfolgreiche Programm des Unternehmens werden – und den Schritt von der forschungsgetriebenen Biotech-Firma hin zu einem kommerziell agierenden Spezialisten einleiten. Von Urs Moesenfechtel
Für viele immungeschwächte Menschen – etwa nach Organtransplantationen oder während einer Chemotherapie – kann ein Herpes-simplex-Ausbruch schwerwiegende Folgen haben. Statt vorübergehender Lippenbläschen treten häufig schmerzhafte, langwierige Läsionen auf, die auf gängige antivirale Therapien nur unzureichend ansprechen. Genau diese Patientengruppe stand im Mittelpunkt der aktuellen Phase-3-Studie zu Pritelivir, dem führenden Wirkstoffkandidaten von AiCuris, die nun den primären Endpunkt erreichte.
Pritelivir erreicht primären Endpunkt in Phase 3
In der zulassungsrelevanten Phase-3-Studie PRIOH-1 (NCT03073967) erreichte Pritelivir den primären Endpunkt: eine statistisch signifikant höhere Heilungsrate der Herpesläsionen im Vergleich zur ärztlich gewählten Standardtherapie. Die multinationale, offene Vergleichsstudie wurde in 15 Ländern mit insgesamt 158 immunsupprimierten Patienten durchgeführt, darunter Personen mit gegen Standardtherapien resistenten Virusvarianten. Die Überlegenheit zeigte sich nach 28 Tagen Behandlung und nahm bis zum 42. Tag weiter zu. Pritelivir gehört zu einer neuen Klasse antiviraler Moleküle, die den Helikase/Primase-Komplex des Herpes-simplex-Virus (HSV-1 und HSV-2) hemmen – einen bislang nicht therapeutisch genutzten Angriffspunkt im Vermehrungszyklus des Virus. Im Gegensatz zu Wirkstoffen wie Aciclovir, das als Standardbehandlung gilt, muss Pritelivir nicht erst durch virusabhängige Enzyme aktiviert werden. Dadurch kann es auch dort wirken, wo klassische Medikamente wegen Resistenzen versagen. Frühere klinische Untersuchungen belegten ein günstiges Sicherheitsprofil. Die FDA verlieh dem Wirkstoff daher bereits den Breakthrough-Therapy-Status, um seine Entwicklung bei hohem medizinischem Bedarf zu beschleunigen.
Ein Markt mit hohem Bedarf und Dynamik
Nach Schätzungen der WHO waren im Jahr 2020 rund 3,8 Milliarden Menschen unter 50 Jahren mit HSV-1 und etwa 520 Millionen Menschen (15 bis 49 Jahre) mit HSV-2 infiziert. Während die meisten Infektionen mild verlaufen, ist die Krankheitslast bei immungeschwächten Patienten deutlich höher: Ausbrüche treten häufiger auf, heilen schlechter ab und können schwere Komplikationen bis hin zu disseminierten Infektionen verursachen. Mit Pritelivir adressiert AiCuris eine Patientengruppe, für die bisherige Behandlungsoptionen oft nicht ausreichen. Das Medikament zielt auf ein klinisch klar definiertes, bislang unterversorgtes Segment und könnte sowohl medizinisch relevante Versorgungslücken schließen als auch ein wirtschaftlich eigenständiges Marktfeld im Bereich antiviraler Therapien erschließen.
Von der Entwicklung zur Vermarktung
Mit dem Phase-3-Erfolg von Pritelivir rückt AiCuris nun seiner zweiten möglichen Markteinführung nach PREVYMIS (Letermovir) näher. (Dieser antivirale Wirkstoff wird seit 2017 über Partner MSD (Merck & Co.) zur Prävention von Cytomegalovirus-(CMV)-Infektionen bei Transplantationspatienten vermarktet. PREVYMIS erhielt 2023 und 2024 erweiterte Zulassungen in den USA und Europa, zuletzt für Hochrisiko-Nierentransplantat-Empfänger, wofür AiCuris von MSD eine Meilensteinzahlung von 15 Mio. EUR erhielt.) 2023 gründete AiCuris eine US-Tochtergesellschaft, um die Kommerzialisierung zukünftiger Produkte vorzubereiten und eine stärkere Präsenz auf dem nordamerikanischen Markt aufzubauen. Neben Pritelivir umfasst die Pipeline weitere Programme gegen BK- und Adenoviren in frühen Entwicklungsphasen.
Vom klinischen Erfolg zur strategischen Realisierung
Die vollständigen Pritelivir-Phase-3-Ergebnisse will AiCuris in Kürze vorstellen. Weitere Auswertungen sollen im ersten Halbjahr 2026 folgen. Durch die US-Tochtergesellschaft hat AiCuris die organisatorische Basis geschaffen, um Zulassungs- und Marktzugangsprozesse in den USA selbst zu steuern. Ob das Unternehmen dabei langfristig auf Eigenvermarktung oder Kooperationen setzt, ist bisher nicht bekannt. Das bestehende PREVYMIS-Lizenzmodell mit MSD sorgt für planbare Einnahmen und ermöglicht die Fortführung der Entwicklungsprogramme ohne kurzfristigen Kapitalbedarf.
Mit Pritelivir steht AiCuris nun an einem seltenen Punkt in der europäischen Biotech-Landschaft: einem späten, klinisch validierten Wirkstoffkandidaten in einem medizinisch und wirtschaftlich relevanten Nischensegment. Gelingt nun der Schritt in die Kommerzialisierung, könnte das nicht nur die Marktstellung des Unternehmens, sondern auch seine Bewertung und Wahrnehmung im Investorenumfeld nachhaltig verändern – als Beispiel für ein mittelständisches Biotech, das den Sprung von der Entwicklung zur Umsetzung tatsächlich schafft.
Autor/Autorin
Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. als Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.