Künstliche Intelligenz (KI) und die Verwertung großer Datenmengen (Big Data) haben längst Einzug in die Patientenversorgung und in die medizinische sowie biopharmazeutische Forschung gehalten. Doch wo geht die Reise hin und welche Bedeutung werden große und möglichst einheitliche Datensätze für den Bereich des kommerziellen Life-Sciences-Business bzw. der biopharmazeutischen Industrie haben? Von Prof. Dr. Ralf Huss

 

Künstliche Intelligenz ist keine einheitliche Technologie, sondern ein Sammelsurium von computerunterstützten und meist statischen Methoden, um etablierte wissenschaftliche und ärzt­liche Tätigkeiten schneller und zuverlässiger durchzuführen. Darunter fallen beispielsweise das Erkennen von Varianten im ­Genom wie auch die diagnostische Bewertung von Röntgenbildern oder Hautveränderungen. Dabei handelt es sich in erster Linie um das maschinelle Lernen, das stark hypothesengetrieben (das Ergebnis ist ­bekannt) oder auch nahezu hypothesenfrei (das Ergebnis ist offen) angewendet werden kann. Letztes gilt insbesondere für das verstärkte (Enforced Learning) oder vertiefte Lernen (Deep Learning) auf der Grundlage meist tiefer „neuronaler Netze“, die der Struktur unseres Großhirncortex ähneln. Je umfangreicher diese Netze sind und je besser sie mit zahlreichen strukturierten Daten trainiert werden, umso mehr innovative Lösungen mit einer teils verblüffenden und realitätsnahen Selbst­verständlichkeit entstehen.

Mehr Möglichkeiten durch mehr Daten

Die zunehmende Verfügbarkeit von relevanten Daten in digitaler Form, auch cloudbasiert, eröffnet somit völlig neue Wege in der Forschung, aber auch in der Versorgung von Patienten in allen Bereichen. Es ist möglich, eine KI für das jeweilige wissenschaftliche oder ärztliche Problem entsprechend zu entwickeln, zu trainieren und gezielt anzuwenden. Wir erleben dies gerade im öffentlichen Raum mit dem Sprachmodul ChatGPT, indem eine KI die Recherche von Literatur und das Erstellen von Texten ermöglicht.

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Ziel ist die KI-basierte ­Präzisionsmedizin

In der biomedizinischen Forschung und Praxis geht es konkret um die Nutzung und Anwendung von digitalen Lösungen auch in der Krankenversorgung. Dabei können die Aufgaben und Erwartungen vielfältig sein und reichen von der Digitalisierung von Krankenakten über ein vernetztes Krankenhaus (Smart Hospital) bis hin zu besseren und genaueren Diagnosen und Therapieentscheidungen für jeden einzelnen Patienten auf der Grundlage vergleichbarer Datenkohorten und einer KI-basierten Auswertung. So ermöglicht etwa die digitale Histopathologie eines primären Tumors oder von Metastasen zusammen mit der Beschreibung einer räumlich aufgelösten Heterogenität bestehend aus Mutationen tragenden Krebszellen, aktivierten Immunzellen und des ebenso wichtigen umgebenden Gewebes eine ­individualisierte Behandlung jedes Patienten in der Präzisionsmedizin. Die KI wird es erlauben, die umfangreichen Daten und unterschiedlichen Informationen exakt zu verarbeiten und klinisch für möglichst ­viele Patienten nutzbar zu machen.

Effektive Therapieentscheidungen durch Digitalisierung von Biomarkern

Nicht nur die zur Verfügung stehenden ­Daten eines einzelnen Patienten, sondern auch die zur Verfügung stehenden Therapeutika haben in fast allen Indikationen zugenommen und jeder Patient soll so ­effektiv wie möglich und zum persön­lichen Krankheitsverlauf passend behandelt werden. Dafür ist eine optimierte ­Stratifizierung unerlässlich. Nur so werden die hohen Kosten für eine moderne Immuntherapie, innovative Zell- und Gentherapeutika, aber auch für die meisten Vakzine nachhaltig investiert. Ziel muss also sein, die uns bisher zur Verfügung stehenden Biomarker (prognostisch und prädiktiv) ebenfalls zu „digitalisieren“ und als „digitale Biomarker“ in die klinischen Entscheidungsprozesse zu integrieren. Der wissenschaftlich-klinische, aber auch finanzielle Erfolg weiterer biopharma­zeutischer Innovationen sowohl in der ­Diagnostik als auch in der Therapie („Theranostics“) hängt daher vom Zugang und Umgang mit Daten auch in der klinischen Prüfung ab. Digitale Entscheidungshilfen auf der Basis großer Datenmengen mit ­Unterstützung einer KI helfen bei der ­richtigen Diagnose und den individuellen Therapieentscheidungen.

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Digitale Kompetenz in der Medizin zukünftig unerlässlich

In diesem Zusammenhang gibt es bereits provokante Thesen, etwa „medicine will become a data science operated by clini­cians“. Die neue Generation an Wissenschaftlern und Ärzten muss nicht unbedingt auch ein Informatikstudium absolviert haben oder selbst programmieren können, aber auf jeden Fall sind es zunehmend Digital Natives mit einem natür­lichen Verständnis und Sachverstand für digitale und KI-unterstützte Entscheidungen. Nach Meinung des US-amerikanischen Kardiologen Eric Topol werden ­„digitale Ärzte“ und „digitale Kranken­häuser“ einen zunehmenden Wett­bewerbsvorteil haben, ebenso wie ­entsprechende biotechnologische und biopharmazeutische Ausgründungen und Start-ups, die Zugang zu relevanten Daten und deren KI-unterstützer Auswertung ­haben. Es sind vermehrt auch die digital gut informierten Patienten, die Gleiches von ihrem Arzt erwarten.

Digitale Technologien und KI werden die Medizin revolutionieren

Eine globale Vernetzung von Patientengruppen und der kontinuierliche Zugriff auf mehr oder manchmal auch weniger verlässliche Daten steigert dennoch die Erwartung auch an eine möglichst wenig invasive Diagnostik. Neben den klassischen Applikationen wie einer Kardio- oder Medikamenten-App auf den heute schon sehr populären Wearables wie Smartphones ist auch die teilweise auf ­Nanotechnologie beruhende Sensortechnik ein zunehmend integrativer und interdisziplinärer Teil modernerer Diagnoseverfahren. Diese können technologische Lösungen wie etwa „lab on a chip“ oder „swallow your doctor“ bis hin zum – zugegebenermaßen futurisch klingenden – „3D-Druck von Medikamenten“ direkt im Patienten nach Bedarf beinhalten. Routine sind dagegen heute bereits die molekulare In-vivo-Diagnostik („molecular imaging“) und die kontinuierliche Untersuchung von Blut auf Biomarker wie Krebsmutationen mittels „liquid biopsy“. Diese Biomarker werden durch die Anwendung einer KI zu „digitalen Biomarkern“ für ein noch nachhaltigeres Krankheitswissen mit präziseren Therapievorschlägen bzw. Handlungsanweisungen im Sinne klinischer und ­digitaler Entscheidungshilfen („clinical decision support“).

Digitale Medizin spart Zeit und Kosten

Welche Bedeutung haben die voranschreitende Digitalisierung und die Anwendung einer KI auf große und möglichst einheit­liche Datensätze für den Bereich des ­kommerziellen Life-Sciences-Business bzw. der biopharmazeutischen Industrie? Es ist inzwischen allgemein akzeptiert, dass eine KI durch ausgeklügelte „In-silico-­Verfahren“ ein besseres „drug design“ z.B. mithilfe der durch einen Nobelpreis ­gewürdigten „synthetischen Evolution“ unterstützen kann. Dies spart in Zukunft nicht nur Zeit, sondern auch Kosten für die Herstellung und Entwicklung von „smart drugs“ und erlaubt hoffentlich ­zunehmend beschleunigte Zulassungsverfahren. „Digital Therapeutics“ und „Digital Biomarkers“ sind dabei ein essenzieller Bestandteil einer digitalen Medizin. Diese wird mittels KI und verfügbarer Gesundheitsdaten die tägliche medizinische und ärztliche Praxis begleiten und unterstützen, und zwar sowohl bei der Diagnose und Risikoabschätzung von Krankheiten als auch bei einer präziseren Therapie­auswahl und nachhaltigeren Prävention, besonders bei einem bekannten individuellen oder familiären Risiko.

Mit KI gegen Fachkräftemangel?

Ein letzter und vielleicht weniger offensichtlicher Aspekt einer Verwendung ­digitaler Plattformtechnologien in der ­Diagnostik ist der zunehmende Mangel an medizinisch-technischem und ärztlichem Fachpersonal bei einer gleichzeitig alternden Gesellschaft sowohl im urbanen als auch im ländlichen Umfeld. Nur mit ­modernen digitalen Technologien und ­unterstützt durch eine nachhaltige KI wird man dem Anspruch auf ein gesünderes und längeres Leben bei vertretbaren Kosten auch in Zukunft gerecht werden können.

Die KI wird dabei auch in Zukunft ­keinen Arzt ersetzen, ihn aber bei vielen Entscheidungen unterstützen.

Dieser Artikel ist in der Plattform Life Sciences-Ausgabe „Smarte Medizin“ 1/2023 erschienen, die Sie hier als E-Magazin abrufen können.

Autor/Autorin

Prof. Dr. Ralf Huss

Prof. Dr. Ralf Huss ist Geschäftsführer der BioM Biotech Cluster Development GmbH und Sprecher des Bayerischen Biotech-Clusters. Als gelernter Pathologe verfügt er über langjährige Erfahrung sowohl in der internationalen akademischen Forschung als auch in biopharmazeutischen Unternehmen. Seine Forschungs­schwerpunkte lagen in der Immunologie, der Krebs- und Stammzellforschung sowie aktuell in der Anwendung von künstlicher Intelligenz und Daten in der digitalen Medizin und Diagnostik. Bevor er zu BioM kam, war Prof. Dr. Huss stellvertretender Ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Augsburg und Gründungsdirektor des Instituts für Digitale Medizin (IDM).