Es sieht so aus, als hätten wir – wieder einmal – eine neue Phase im Venture-Finanzierungszyklus erreicht. Weltweit ist die Investmenttätigkeit von Venture Capitalisten (VCs) und Wachstumskapitalgebern im ersten Quartal des Jahres signifikant ­zurückgegangen – sogar unter Berücksichtigung der zwei großen Transaktionen für OpenAI und Stripe. Laut Crunchbase betrug der Rückgang des Finanzierungsvolumens im ersten Quartal 2023 satte 53%, der prozentuale Rückgang über alle ­Finanzierungsphasen hinweg lag zwischen 44% und 54%; Early Stage, Late Stage und alles dazwischen und drumherum sind also gleichermaßen ­betroffen. Zusätzlich haben der Kollaps von SVB, First Republic, Signature Bank, und auch die ­Notübernahme von Credit Suisse, das seit 2008 zurückgewonnene Vertrauen in die Stabilität der Finanzwirtschaft erschüttert. 

Signifikanter Rückgang der Investmenttätigkeit weltweit

Zwar haben viele Beteiligungsfirmen noch genügend Kapital, um ihre Invest­menttätigkeit weiterzuführen – immerhin war 2022 ein Jahr des Rekordfundraisings –, aber das Investitionstempo hat sich auch bei diesen Investoren deutlich abgeschwächt. Das merken gerade viele junge Unternehmen, die dringend Kapital benötigen und nun, zum Teil schon mitten in ­Verhandlungen steckend, plötzlich wieder in eine Warteschleife geschickt werden.

Durchfinanzierung bis zum Exit

Bei TVM Capital verfolgen wir schon länger das Ziel, unsere Beteiligungen, nach Möglichkeit von Anfang an, bis zum erwarteten Exit vollständig durchzufinanzieren – und dies am besten so, dass sich unsere Portfoliounternehmen nicht (mehr) mit den Negativeffekten solcher Finanzierungs­zyklen auseinandersetzen müssen. Das funk­tioniert natürlich nicht für alle Businessmodelle, aber doch für viele. Zudem haben wir glücklicherweise noch genügend „Dry Powder“, das wir auch bevorzugt in Deutschland und Europa anlegen wollen.

Anpassung an neue Rahmenbedingungen

Aber nicht nur die Ventures müssen ­umdenken und sich an die neuen Gegeben­heiten anpassen: Auch wir VCs müssen uns perspektivisch mit veränderten Rahmenbedingungen auseinandersetzen. Da ist zum einen die neue EU-Arzneimittel­gesetzgebung, die den Patentschutz verkürzen und das Vorhalten von größeren Mengen wichtiger Medikamente vorschreiben will. Zum anderen sollen bei der Antibiotikaentwicklung Anreize gesetzt werden, die zu neuer Forschung und Entwicklung in diesem Bereich führen könnte. Das ist zur Abwechslung eine großartige Nachricht, die eventuell auch dazu führt, dass hier wieder mehr Wagnis­kapital investiert wird. Wie die neue EU-Pharmareform letztlich wirklich aussehen wird, ist noch nicht ganz abzu­sehen. Das Tauziehen zwischen den EU-Ressorts, Mitgliedstaaten und Betroffenen findet jetzt erst statt.

Auswirkungen des Inflation Reduction Act

Auch im wichtigsten Pharmamarkt weltweit, also dort, wo die höchsten Preise für Arzneimittel zu erzielen sind, tut sich etwas. Der 2022 in den USA beschlossene Inflation Reduction Act (IRA) hat deutliche Auswirkungen auf die Pharmabranche – schließlich soll ein signifikanter Teil der Mittel, der zur Förderung von einzelnen Climate-Change-Projekten und zur Erneuerung der Infrastruktur verwendet werden soll, durch Kürzungen bei den Preisen für ­Arzneimittel generiert werden. So lautet zumindest der Plan.

Die Rechnung muss aufgehen

Ich verstehe absolut, dass Preise fair und angemessen sein müssen, denn hier gab und gibt es eine Reihe prominenter Fehlentwicklungen. Doch diese Branche lebt vor allem von Innova­tionen, und deren Finanzierung ist risikoreich und kapitalintensiv. Diese Finan­zierung gelingt aber nur, wenn auch die Rechnung von Wagniskapitalgebern aufgeht.

Hoffnung auf Entscheidungen

Apropos: Ich habe noch nie jemanden klagen gehört, dass es zu viel Venture Investments gäbe. Dass sich hingegen alle mehr Venture Capital wünschen, hört man sehr wohl. Daher wäre es hilfreich, nicht nur über mehr Regulierung und Kürzungen nachzudenken, sondern auch ­darüber, wie wir mehr Venture Capital, ­gerade hier in Europa, mobilisieren. Ich setze darauf, dass die Entscheidungs­träger in Brüssel und Berlin zuhören.

Im Westen nichts Neues? Ganz im ­Gegenteil!

Dieser Artikel ist in der Plattform Life Sciences-Ausgabe „Finanzieren & Investieren“ 2_23 erschienen und kann hier heruntergeladen werden: https://www.goingpublic.de/wp-content/uploads/epaper/epaper-Life-Sciences-2-2023/#32

Autor/Autorin

Dr. Sascha Berger

Dr. Sascha Berger ist General Partner bei TVM Capital Life Science, einem der europäischen Pioniere für Venture-Capital-Finanzierungen im Bereich Life Sciences, mit Teams in Europa und Nordamerika. Seit seinem Einstieg bei TVM in München im Jahr 2016 hat er erfolgreich den aktuellen 480-Mio.-USD-Fonds mitaufgelegt und arbeitet eng mit Gründern zusammen, um vielversprechende Unternehmen und Produkte in den Bereichen Biotechnologie, Medizintechnik, Diagnostik und Digital Health voranzubringen. Er ist leidenschaftlicher VC-Investor, Board Member der Life Science Acceleration Alliance, Boston-Consulting-Alumnus und Absolvent der Technischen Universität München.