Steht die Medizintechnik in Deutschland an einem Scheideweg? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Einerseits haben die Exporte deutscher Medtech-Unternehmen im vergangenen Jahr erneut zugelegt und erstmals die Schallmauer von 30. Mrd. EUR Umsatz durchbrochen. Vor allem in der zunehmenden Digitalisierung werden weitere Wachstumschancen gesehen. Andererseits verliert die Dynamik insgesamt an Schwung. Und die ganz großen Geschäfte werden eh woanders getätigt. Von Holger Garbs

 

Auf den ersten Blick sind es gute Neuigkeiten: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes erwirtschafteten die deutschen Medizintechnik-Unternehmen in 2018 einen Umsatz von 30,28 Mrd. EUR. Der Industrieverband SPECTARIS wertet diese Zahlen als Zuwachs um bis zu 3% im Vergleich zum Vorjahr. Auch die Zahl der Betriebe (1.352 / +3,2 Prozent) und die Anzahl der Beschäftigten (143.200 / +3,9 Prozent) stieg. Für das laufende Jahr erwartet SPECTARIS ebenfalls ein Umsatzwachstum um bis zu 3%. Somit erweist sich die Medizintechnik erneut als starker Wachstumstreiber der deutschen Wirtschaft bei einer schon beinahe traditionell hohen Exportquote (65% in 2018).

Allerdings hatten Experten ein höheres Umsatzwachstum erwartet. Ein wesentliches Hemmnis sei hier die seit knapp zwei Jahren geltende europäische Medizinprodukteverordnung (MDR) und der damit verbundene hohe bürokratische Aufwand und weiterhin ungelöste Fragen zur praktischen Umsetzung. Folglich sei auch die Zahl der Investitionen zurückgegangen. Auch werden Forderungen nach einer Erhöhung der Fast-Track-Verfahren insbesondere im Bereich der digitalen Medizin sowie schlankeren Bewertungs- und Abrechnungsmodellen laut.

Den Anschluss nicht verlieren

Dabei gilt es, keine Zeit zu verlieren. Denn die zunehmende Digitalisierung sowie der vermehrte Einsatz von künstlicher Intelligenz versprechen für die Zukunft goldene Zeiten: Für das Jahr 2028 erwartet der Verband SPECTARIS einen jährlichen Umsatz von 15 Mrd. EUR mit digitalen Produkten und Dienstleistungen – aktuell sind es „nur“ rund 3,3 Mrd. EUR in diesem Segment. Auch der demografische Wandel sowie die Dynamik in den Schwellen- und Entwicklungsländern gelten als Wachstumstreiber.

Ob sich die stark mittelständische Prägung der Branche dabei als Hemmschuh entpuppen wird, bleibt offen. Knapp 93% der deutschen Medtech-Industrieunternehmen beschäftigen weniger als 250 Mitarbeiter. Insgesamt sind in Deutschland knapp 200.000 Menschen im Bereich der Medizintechnik-Industrie beschäftigt. Viele heimische Firmen sind Global Player, auch wenn ihre Namen oftmals nur ausgewiesenen Branchenkennern bekannt sind.

Die Dynamik lässt nach

Zuletzt warnte der SHS-Medizintechnik-Index vor einem spürbaren Nachlassen der Wachstumsdynamik. So misst der Index der Tübinger Beteiligungsgesellschaft einen Wert von knapp 112% für 2016, der 2017 auf 110,5% zurückging und im vergangenen Jahr auf 109,7%fiel. Auch hier werden als Hauptgrund die regulatorischen Bedingungen der Medizinprodukteverordnung genannt. Die damit verbundenen Zulassungs- und Prüfverfahren stellen deutlich höhere Anforderungen als bisherige Verfahren. Steigende Entwicklungszeiten und höhere Kosten wirken sich nicht zuletzt nachhaltig auf die Eigenkapitalsituation gerade kleinerer und mittlerer Medtech-Unternehmen aus. Und diese stellen, wie oben erwähnt, das Gros der deutschen Medizintechnik-Unternehmen dar.

Die stark mittelständische Prägung, eigentlich ein Garant des jahrelangen Wachstums, könnte sich künftig als Fluch erweisen. So gewinnt die Suche nach starken strategischen und finanziellen Partnern an Bedeutung. Ebenso verstärken Medtech-KMU ihre Akquisetatigkeit. Ob sie damit künftig eine kritische Masse erreichen können, um langfristig am Markt bestehen zu bleiben, bleibt noch offen. Im Zweifelsfall gilt es eine zeitliche Lücke zu schließen, bis der „Segen“ der Digitalisierung in der Medizintechnik tatsächlich Einzug hält.  Tatsächlich dienen Zukäufe nicht zuletzt der Gewinnung weiterer Marktanteile sowie einer Erweiterung des Produktportfolios.

Ausländische Konzerne agieren mehr

Vorreiter in dieser Hinsicht sind einmal mehr die US-amerikanischen Märkte. Dort, so scheint es, werden hemmende Regularien aktuell eher abgebaut, was dem Innovationsfluss nur förderlich sein kann. So erwarb der Mischkonzern 3M zuletzt das Unternehmen Acelity für 6,7 Mrd. USD, einen Hersteller von Produkten für die chirurgische Wundversorgung. Zuvor hatte 3M bereits das Unternehmen M Modal übernommen, für rund 1 Mrd. USD übernommen, einen Entwickler von Health-IT-Systemen und spezialisiert auf Cloud-Dienste und KI.

In Europa hate im ersten Halbjahr dieses Jahrs die Übernahme des US-amerikanischen Software-Spezialisten Medidata Solution für 5,8 Mrd. USD durch den französischen Konzern Dassault Systèmes für Aufsehen gesorgt. Medidata Solutions entwickelt Softwarelösungen für die personalisierte Medizin.

Neben der personalisierten Medizin und Health-IT gelten auch die Robotik sowie die Wundversorgung als weitere Wachstumstreiber in der Medizintechnik – allesamt Themenfelder, die auch deutsche Firmen mühelos besetzen können. Denn die Exzellenz des Forschungsstandortes Deutschland ist weiterhin unbestritten, ebenso die Enge Verzahnung von Forschung und Wirtschaft. Doch stagnierte die Anmeldung von Medizintechnik-Patenten seit dem Jahr 2016 durchweg bei etwa 1.000, während die Zahl der insgesamt angemeldeten Patente in Deutschland seitdem deutlich steigt und mit über 20.800 in 2018 einen neuen Höchststand erreichte. Erneut machen Experten ein schwieriges regulatorisches Umfeld dafür verantwortlich.

Anders formuliert: Deutschland droht, im internationalen Wettbewerb ins Hintertreffen zu geraten, während ausländische (Groß-)Konzerne im innovationsfreundlicheren Umfeld agieren und zudem durch eine stärkere Finanzkraft und damit verbundener M&A-Aktivitäten ihre Marktpositionen festigen und ausbauen können. In der DACH-Region finden M&A-Aktivitäten hauptsächlich im Start-up-Bereich statt. So hat etwa die Brainlab AG das Start-up Medineering übernommen, ein Unternehmen aus dem Robotic-Bereich, welches Lösungen für die mechatronische Unterstützung bei Operationen entwickelt.

Fazit

Hohe regulatorische Anforderungen und ungeklärte Fragen deren praktischer Umsetzung hemmen das Wachstum der deutschen Medizintechnik, wenn zurzeit auch auf hohem Niveau. Die stark mittelständisch geprägte Unternehmensstruktur und die damit begrenzt vorhandene Finanzkraft erweist sich nicht durchgehend als förderlich für erforderliche M&A-Prozesse. Finden diese dennoch statt, konzentrieren sich diese zumeist auf den Start-up-Bereich. Hier agieren häufig VC-Investoren, auf deren Unterstützung nicht verzichtet werden kann. Wachstumstreiber sind durchweg vorhanden, die wissenschaftliche Exzellenz hierzulande ist unbestritten. Trotzdem bleibt die Frage an dieser Stelle unbeantwortet, ob es der Branche insgesamt und langfristig gelingen wird, auf den fahrenden Zug aufzuspringen.

Autor/Autorin

Holger Garbs ist seit 2008 als Redakteur für die GoingPublic Media AG tätig. Er schreibt für die Plattform Life Sciences und die Unternehmeredition.