Sie setzen auf künstliche Intelligenz, auf Nanostrukturen oder auf neuartige minimal-invasive Behandlungsmethoden: Beim 9. MedTech Pitch Day am 29. März 2023 in Berlin präsentieren zehn Medizintechnik-Start-ups ihre Ideen, wie sie mit innovativen Technologien die Gesundheitsversorgung verbessern wollen. Für die Veranstaltung hatten sich mehr als hundert junge Unternehmen aus ganz Europa beworben. Mehr als 40 Investor:innen haben ihre Teilnahme an der Veranstaltung angekündigt. Plattform Life Sciences sprach vorab mit den Organisatoren Dr. Anke Caßing und Jakob Lilienweiss vom High-Tech Gründerfonds

 

Sehr geehrte Frau Dr. Caßing, sehr geehrter Herr Lilienweiss, ein Investmentschwerpunkt des HTGF ist „Smarte Medizin“. In diesem Rahmen veranstaltet er seit mehreren Jahren den MedTech Pitch Day, eine Pitch-Veranstaltung für Start-ups aus dem Gesundheitsbereich. Was ist das für ein Format?

Caßing: Der MedTech Pitch Day spiegelt die Vision und Mission des HTGF sehr eindrücklich wider: Wir bringen hier Start-ups, Mittelstand und Industrie, (Co-)Investoren und andere Stakeholder zusammen. Nicht alle von ihnen möchten selbst direkt in Start-ups investieren, können aber über den HTGF die Innovationslandschaft in ihrem jeweiligen Fachgebiet im Auge behalten.

Lilienweiss: Wir nutzen dieses Pitch Day-Format mehrmals im Jahr für unsere Life Sciences-Bereiche. In den Feldern Pharma, Medizintechnik, Digital Health und AgriTech versuchen wir, Startups branchenübergreifend anzusprechen. Dies könnte man „vertikale Fokussierung“ nennen. Für die Durchführung des MedTech Pitch Days kooperieren wir mit Dräger, B.Braun, der Techniker Krankenkasse und dem Health Innovation Port. Für unsere anderen Pitch Days arbeiten wir mit weiteren Industriepartnern zusammen.

Was ist bei diesem doch sehr gängigen Format das Besondere?

Lilienweiss: An unserer Veranstaltung nehmen echte Entscheider des Gesundheitssystems, der Industrie und der Investorenlandschaft teil. Hier findet eine direkte Vernetzung der Personen statt, die am Ende auch verbindliche und gegenseitige Zusagen treffen können. Die Gründung eines Start-ups ist, anders als der Name vermuten lässt, viel mehr als nur ein „Anlauf“. Das Ganze ist ein „Marathon-Staffel-Lauf“. Es braucht Erfinder, Qualitätsmanager, Verkäufer und viele weitere Rollen. Die wenigen Personen, die anfangs ein Start-up stemmen, müssen sehr wandelbar sein und vielfältige Qualifikationen mitbringen.

Caßing: Und sie brauchen meist mehr Geld, als sie anfänglich abschätzen können. Eine innovative Idee ist noch lange keine Lizenz zum Gelddrucken. Es braucht Durchhaltevermögen und vor allem von Anfang an die richtigen Personen mit Expertise, die einen unterstützen. Unser Format kann dazu beitragen, dass aus dem Marathon ein Halbmarathon wird oder dass die Staffelstab-Übergaben funktionieren. Für den Erfolg eines Start-ups ist es entscheidend, vernünftige, solide, zeitnahe und verlässliche Ratschläge zu erhalten.

Mit einer Betreuung durch Experten können auch andere Fonds, Acceleratoren, Inkubatoren usw. aufwarten. Was ist beim HTGF anders?

Caßing: Die initiale Mission des HTGF ist die Unterstützung wirklich innovativer Ideen und ihres Transfers. Wir machen Start-ups „Investor-ready“. Dabei suchen wir so früh wie möglich den Kontakt zu Projekten, Innovatoren, potenziellen Gründern, Start-ups – meist bereits an Hochschulen, oft Einzelpersonen oder Gruppen, die noch gar nicht daran denken zu gründen. Durch die vielen Start-ups, die wir sehen und mit denen wir arbeiten, haben wir einen guten Überblick darüber, was durch Risikokapital finanzierbar ist. Mit unseren vielfältigen Kontakten in die Industrie und zu Stakeholdern in den verschiedensten Märkten können wir einschätzen, welche Innovationen gesucht werden. Unsere Experten sind keine „Mentoren“, die erst in einer späteren Start-up-Phase hinzukommen, sondern schlagen in einer Art Pre-Start-up-Phase die Brücke in die Wirtschaft, zu Investoren oder weiteren wichtigen Stakeholdern.

Lilienweiss: Der MedTech Pitch Day ist eingebettet in eine Vielzahl von „Experte-meets-Start-up“-Aktionen, die ineinandergreifen. Das Besondere ist auch, dass wir einen informellen Austausch ermöglichen, die Hürden in Kontakt zu kommen also niedrig halten. Für die von uns finanzierten Start-ups können wir dank unseres sehr großen Netzwerks themenspezifisch und passgenau Experten vermitteln, die oft über langjährige Praxiserfahrung und Know-how verfügen. Und das ist bei Fragen zu klinischen Studien, Zulassungen, Kostenerstattung, Kommerzialisierung, Marktkenntnis, Strategieentwicklung und vielem mehr für Start-ups sehr wertvoll.

Wie spiegeln Sie bei der Auswahl der Investoren die Zielsetzung des MedTech Pitch Days wider?

Caßing: Die von uns eingeladenen Investoren haben alle ein großes Interesse an HealthTech Investments. Es sind Investoren mit langjähriger Erfahrung in der Medizintechnik, aber auch Investoren, die digitale Geschäftsmodelle finanzieren. Dabei sind sowohl große Fonds als auch engagierte Business Angels vertreten. In der Regel schließen sich für Finanzierungsrunden mehrere Investoren mit unterschiedlichen Profilen zusammen, um Start-ups zu unterstützen. Dies reduziert das Risiko für alle Beteiligten und erhöht den Support für das Start-up. Für die verschiedenen Phasen, die ein erfolgreiches Start-up durchlaufen muss, bedarf es tragfähiger Netzwerke oder Kanäle, um Produkte, ob Soft- oder Hardware, dauerhaft in Kliniken zu platzieren. Die Zusammenarbeit mit der Industrie, insbesondere mit Unternehmen, die in ähnlichen Bereichen tätig sind, ist also nicht nur für Start-ups entscheidend, sondern bestenfalls ein bedeutender Faktor für Investoren bei der Entscheidung, ob sie sich engagieren möchten.

Lilienweiss: Wenn man im Bereich der Klinikdigitalisierung gründen möchte, kann ein Corporate wie Dräger oder B.Braun ein wichtiger Partner sein, der durch Zugang beim Skalieren hilft. Wir unterstützen Start-ups dabei, diese Kontakte herzustellen und positive Signale in den Markt zu senden. Natürlich kann ein Pitch Day nicht alle Herausforderungen lösen, die beim Zusammenarbeiten mit verschiedenen Akteuren auftreten können. Wir setzen jedoch positive Impulse, um den Marathon erfolgreich zu starten oder auf dem Weg die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Kommen wir zum aktuellen Pitch Day. Wie sah das diesjährige Bewerberfeld aus?

Caßing: Für unseren diesjährigen Pitch Day haben wir mehr als 100 Bewerbungen erhalten, aus denen dann eine Jury letztlich 10 ausgewählt hat. Die Jury setzt sich aus Vertretern der Techniker Krankenkasse, Dräger, B.Braun, des Health Innovation Port und natürlich uns zusammen. Die Bandbreite der Tätigkeitsfelder dieser Akteure sichert uns eine hohe Vielfalt in den ausgewählten Start-ups. Generell erzielen wir einen Fifty-Fifty-Mix aus klassischen Medizintechnik- und Health Tech-Start-ups. Uns ist es wichtig, dass nicht nur Hardware-lastige Startups mit dabei sind, sondern auch solche, die an künstlicher Intelligenz und Plattformthemen im Gesundheitswesen zu arbeiten.  

MedTech Pitchday Poster. Copyright: HTGF

Da der Pitch Day nun zum wiederholten Male stattfindet: Lassen sich bei den Themenfeldern, in denen die Start-ups unterwegs sind, Trends ausmachen?

Lilienweiss: In diesem Jahr sind verstärkt Bewerbungen von „FemTech“-Start-ups sowie Präventionsansätze auf Basis von KI eingegangen. In früheren Jahren war mentale Gesundheit oder „Rehatechnik“ ein Thema. Ein eindeutiger Trend lässt sich auf Anhieb nicht ableiten. Die meisten Start-ups konzentrieren sich darauf, ungelöste Fragestellungen in der Medizin zu adressieren, wie beispielsweise Digitalisierung oder Prozessgestaltung oder sie arbeiten an der Heilung spezifischer Krankheiten. Bei allen Start-ups ist jedoch seit einiger Zeit zu beobachten, dass sie konsequenter als in früheren Jahren verschiedene Gesundheitssystem-Stakeholder über ihr Produkt zusammenbringen und den Patienten stärker in die Behandlungspfade einbeziehen. Heutige Start-ups denken ihren Business-Case holistischer.

Können Sie uns einen kurzen Überblick über die für diesen Pitch Day ausgewählten Start-ups geben?

Caßing: Die ausgewählten Start-ups aus Deutschland, Tschechien, Schweden und Italien bauen auf ganz unterschiedlichen Technologien auf. Künstliche Intelligenz (KI), innovative Imaging Techniken sowie neuartige Materialien sind gleichermaßen vertreten. In der Anwendung geht es um verschiedene Krankheitsbilder, zum Beispiel aus der Kardiologie, Orthopädie oder Neurologie. Einige Start-ups konzentrieren sich auch darauf, Prozesse im Gesundheitswesen effizienter zu gestalten.

Lilienweiss: Ein Schwerpunkt wird dabei auf der Nutzung von KI und maschinellem Lernen liegen. U-Care Medical aus Turin will beispielsweise mithilfe von KI Komplikationen auf Intensivstationen vermeiden und Datlowe aus Prag möchte therapieassoziierten Infektionen im Krankenhaus vorbeugen. DocRobin aus München arbeitet an einer Webplattform, die KI-gestützt individuellen ärztlichen Rat geben soll. Acorai aus Stockholm kombiniert Sensortechnologie und maschinelles Lernen für eine nicht-invasive Überwachung des Herzinnendrucks bei Herzinsuffizienz. Altavo aus Dresden setzt KI zusammen mit nicht-invasiver Radarsensorik ein, um Menschen nach einem Stimmverlust eine natürlich klingende Stimme zurückzugeben. Das Thema Digitalisierung ist auch vertreten, beispielsweise durch das Berliner Start-up IntensivKontakt, das mit einer App die Kommunikation zwischen Patienten, Angehörigen und medizinischem Personal vereinfachen möchte.

Caßing: Es sind aber nicht ausschließlich „Digital-Innovationen“ vertreten. DeepEn aus Jena, eine Gründung aus dem Leibniz-Institut für photonische Technologien (IPHT), entwickelt beispielsweise haarfeine holografische Endomikroskope für Neurowissenschaften und Medizin. Sedivention aus Straßlach bei München möchte mit einer Magensonde, die die Weiterleitung des Hungergefühls an das Gehirn stoppt, eine minimalinvasive Alternative zur Adipositas-Chirurgie schaffen. PoroUS aus Potsdam will mit einer neuartigen Ultraschalltechnologie die Diagnose von Osteoporose erleichtern. Und Nanoshape aus Karlsruhe versieht Implantate mit antibakteriell wirkenden Nanostrukturen, die sich das Start-up von der Natur abgeschaut hat.

 

Herzlichen Dank für das informative Gespräch.

 

Zu den Interviewpartner:innen:

Dr. Anke Caßing (links) und Jakob Lilieweiss (rechts). Copyright: HTGF

Dr. Anke Caßing, Principal beim HTGF, besitzt langjährige Erfahrung im strategischen Marketing und Business Development in der Medizintechnik, der Biotechnologie und der pharmazeutischen Industrie. Sie promovierte am Max-Planck-Institut für Biochemie und absolvierte ein betriebswirtschaftliches Zusatzstudium. Vor ihrer Tätigkeit beim HTGF entwickelte sie in international tätigen Unternehmen die Produktportfolien zur Nutzung zukünftiger Wachstumschancen weiter.

Jakob Lilienweiss, Investment Analyst beim HTGF, ist Wirtschaftswissenschaftler und hat in seiner akademischen Laufbahn Stationen in den USA, den Niederlanden und Portugal absolviert. Bevor er zum HTGF kam, führte er Marktforschung bei der deutschen Handelskammer durch, arbeitete in der Change-Management-Beratung und als Teaching Assistant für Strategie- und Entrepreneurship-Kurse. Zuletzt erforschte er CVC-Investitionen aus der Perspektive von Start-ups und konzentriert sich heute auf die Investmentbereiche Medtech und Healthtech.

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Autor/Autorin

Redaktionsleiter Plattform Life Sciences at GoingPublic Media AG | Website

Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. als Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.