Am 27. Juli 2022 trat das „Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung weiterer Vorschriften“ in Kraft und eröffnete alternativ zur bekannten Präsenzveranstaltung die Möglichkeit, entweder eine reine virtuelle Hauptversammlung (HV) oder eine hybride Veranstaltung durchzuführen.

Erste Erfahrungen mit der Durchführung einer reinen virtuellen HV konnten durch die befriste Gesetzgebung anlässlich der Coronapandemie gesammelt werden, die jedoch im Unterschied zum neuen Gesetzesinhalt (mit dem Ausschluss des Fragerechts) erhebliche Einschränkungen der Aktionärsrechte erlaubte.

Wichtige Rechte der Aktionäre

Die Kernrechte der Aktionäre sind das Recht der Stimmenabgabe und das Fragerecht an die Organe. Letzteres wird im aktuellen Gesetz für die virtuelle HV sichergestellt. Es gibt zwei Möglichkeiten, das Fragerecht auszugestalten: Zum einen können im Vorfeld der Vollversammlung Aktionärsfragen zugelassen werden. Dabei müssen die Fragen spätestens drei Tage vor der HV in elektronischer Form der Gesellschaft zugegangen sein. Anschließend hat der Vorstand bzw. Aufsichtsrat bis zum Tag vor der HV Zeit, diese Fragen zu beantworten und auf der Homepage zu veröffentlichen. Ebenso ist der Bericht des Vorstands spätestens sieben Tage vor der Versammlung zu veröffentlichen, um es den Aktionären zu ermöglichen, darauf Fragen zu stellen.

In der Hauptversammlung besteht nur noch ein Nachfragerecht zu Antworten auf die vorab eingereichten Fragen. Die zweite Option entspricht dem Prozedere der klassischen Präsenzveranstaltung, wonach Aktionärsfragen nur in der Versammlung zugelassen sind. In diesem Fall ist es nicht zwingend, den Vorstandsbericht vorab zu veröffentlichen.

Anwesenheitspflicht für Organe

Bei beiden Optionen besteht für sämtliche Organmitglieder eine grundsätzliche Anwesenheitspflicht am Ort der Hauptversammlungsübertragung. Darunter fallen auch Nebenräume, die sich am Ort der HV befinden müssen. Somit ist das Zuschalten von Mitgliedern des Vorstands oder des Aufsichtsrats aus anderen Orten nicht gestattet, welches in der virtuellen „Corona-Hauptversammlung“ noch möglich war.

Einige Stimmenrechtsvertreter gehen sogar noch weiter und fordern, dass sämtliche Organmitglieder in einem Raum oder wie bisher zusammen auf einer Bühne sitzen. Aus unserer Sicht ist dieser Wunsch durchaus nachvollziehbar. Es ist sicherlich nicht zu viel verlangt, wenn die Mitglieder von Vor-stand und Aufsichtsrat einmal im Jahr den Aktionären Rede und Antwort stehen.

Technik versus Anfahrtsweg

Die rein virtuelle Vollversammlung hat den grundsätzlichen Vorteil, insbesondere bei einem zahlenmäßig großen Aktionariat auf die kostspielige Saalmiete sowie auf ein umfangreiches Catering zu verzichten. Ebenso fallen für Aktionäre und Besucher ggf. weite Anfahrtswege weg. Demgegenüber ist sicherzustellen, dass die technischen Voraussetzungen für eine reibungslose Durchführung der virtuellen Versammlung geschaffen werden. Das kann wiederum mit einem hohen organisatorischen und finanziellen Aufwand verbunden sein.

So sorgen die Unsicherheiten bezüglich der Anzahl von Fragen und Redebeiträgen zusammen mit den noch nicht vorhandenen Erfahrungswerten und der fehlenden Rechtsprechung für Zurückhaltung, sodass beispielsweise die Deutsche Telekom ihre Hauptversammlung wieder im traditionellen Präsenzformat durchführen möchte. Zudem stehen die großen Aktionärsvertreter wie ISS, Glass Lewis oder DSW einer rein virtuellen Veranstaltung skeptisch gegenüber und empfehlen die Durchführung einer klassischen oder hybriden Hauptversammlung.

Der persönliche Kontakt zu den Organen, eine lebhafte Generaldebatte sowie Rede und Gegenrede sind ihnen sehr wichtig. Während eine hybride Hauptversammlung den Aktionären auch die bequeme Teilnahme von zu Hause ermöglicht, kombiniert sie aus Sicht der Emittenten auch die Nachteile beider Formen: Neben den Kosten für Saal und Catering entsteht Aufwand für die technische Übertragung.

Hybride Variante bei internationaler Anlegerschaft

Aus unserer Erfahrung kann eine besondere Form der hybriden Hauptversammlung gerade dann in Betracht kommen, wenn ein deutscher Emittent nur im Ausland notiert und Privataktionäre im Inland beispielsweise keine Aktien, sondern ADRs halten. Dann ist es erfahrungsgemäß schwierig bis unmöglich, diesen Aktionären eine klassische Teilnahme an einer Hauptversammlung zu ermöglichen, und ein virtuelles Öffnen für die Allgemeinheit versetzt auch die Halter dieser ADRs in die Lage, der Hauptversammlung ohne formale Teilnahme beizuwohnen.

Autor/Autorin

Prof. Dr. Wolfgang Blättchen

Prof. Dr. Wolfgang Blättchen ist geschäftsführender Gesellschafter der BLÄTTCHEN FINANCIAL ADVISORY GmbH und seit drei Jahrzehnten als unabhängiger Berater für Kapitalmarktstrategien aktiv. In dieser Zeit konnte er über 100 Pre-IPOs, IPOs und Follow-on-Mandate begleiten. Er ist aktives Mitglied in Aufsichts- und Beiräten sowie Ansprechpartner der Börsen.

Uwe Nespethal

Uwe Nespethal ist ebenfalls geschäftsführender Gesellschafter der BLÄTTCHEN FINANCIAL ADVISORY GmbH und seit über 20 Jahren als unabhängiger Berater in Kapitalmarktstrategien sowie in der Auflegung von kapitalmarktorientierten Incentivierungsprogrammen für Führungskräfte und Mitarbeiter tätig.