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Es ist ein hochprofessionelles Saisongeschäft und bisweilen auch Akkordarbeit. Im Mai und Juni findet das Gros der Hauptversammlungen statt – und vor Pfingsten ist regel­mäßig der Gipfel erreicht. In diesem Jahr am 17. Mai: 33 Hauptversammlungen an einem Tag! Auf der Suche nach Lösungen.
Oliver Singer ruft zurück! Es ist Anfang ­Juni; „sorry, ich bin heute den ersten Tag im Büro nach etlichen Wochen“, sagt der Vorstand der ACS Solution AG aus dem schwäbischen Owen. Ein Interviewtermin zu einem Fachthema muss verschoben werden, bis nach der letzten „big week“. Das sei dann erst wieder im ­Juli. Noch geht das HV-Geschäft vor. Den Mai hatte Singer praktisch „on the road“ verbracht, auf ­diversen Hauptversammlungen, meist in der virtuellen Spielart, ­selten in Präsenz. Sein Unternehmen bedient die technische Seite, streamt Aktionärsversammlungen und bietet Frage-Antwort-Systeme an für virtuelle HVs.
Wo er am 17. Mai war? „Mit einem Team aus insgesamt 30 Mitarbeitern haben wir sieben HVs technisch begleitet.“ Der Tag vor Christi Himmelfahrt war in dieser ­HV-Saison mit Abstand der beliebteste Termin. „Am Freitag, den 19. Mai, hätten wir viel Kapazität gehabt – aber keine Kunden.“

„Das war schon heftig“, erklärt auch Petra Dischinger auf die Frage nach dem Großkampftag. Sie führt ein Stenografiebüro in Mainz und gehört zu den meistgebuchten Fachleuten in der kleinen, sprezialisierten Branche. „Wir haben am 16. und 17. Mai acht Hauptversammlungen abgedeckt, meist in Zweierteams. Zehn Firmen musste ich für diese Tage absagen.“

Singer und Dischinger thematisieren ein bekanntes Phänomen in der Branche der HV-Dienstleister: Die beliebtesten Termine für Aktionärsversammlungen sind vor ­Feiertagen, die eventuell in ein verlängertes Wochenende münden, sowie grundsätzlich Dienstag bis Donnerstag. Montag ist ob möglicher Vorarbeiten am Vortag (das wäre dann der Sonntag) naturgemäß unbeliebt, aber auch der Freitag wird in ­regulären Wochen selten für Hauptversammlungen gewählt.

Enges Terminkorsett

Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber Fristen setzt: Gesellschaften der Rechtsform ­Societas Europaea (SE), nach Erhebungen von AfU Research immerhin 125 von rund 800 börsennotierten und damit stärker im öffentlichen Interesse stehenden Gesellschaften in Deutschland, haben bis 30. Juni Zeit, Aktionären Rechenschaft über die ­Ergebnisse und Pläne ihres Unternehmens abzulegen. Offiziell einladen können die ­Unternehmen aber erst, wenn ein geprüfter Jahresabschluss vorliegt, auf Basis dessen dann bei der Hauptversammlung über die Dividende abgestimmt werden kann. Die ­Abschlusserstellung nimmt häufig das ­gesamte erste Quartal in Anspruch. Eine Versammlung vor April kommt daher bei ­Gesellschaften, deren Geschäftsjahr in den meisten Fällen das Kalenderjahr ist, praktisch nicht infrage.

Die HV-­Saison lief bisher recht sperrig, oft kam es zu technischen Ausfällen.

Marc Tüngler, DSW

Nach hinten heraus haben Aktiengesellschaften theoretisch zwei Monate länger Zeit SEs – bis 30. August müssen sie ihre Anteilseigner empfangen –, aber aufgrund der Schulsommerferien im Juli/August ist das für die wenigsten Unternehmen eine Option, weil zu dieser Zeit auch ihre Führungskräfte und selbstredend Fonds­manager und Aktionäre mit ihren Familien in den Urlaub wollen. Zudem drängen verständlicherweise auch irgendwann die ­Aktionäre, dass sie ihre Ausschüttungen erhalten möchten.

Quelle: www.hv-info.de

Das Terminkorsett ist im Grundsatz jedes Jahr ähnlich. Dennoch hat die Ballung der Aktionärsversammlungen auf wenige Tage seit Einführung der digitalen HV in der ­Coronazeit und vor allem jetzt mit den Möglichkeiten der Durchführung von virtuellen Versammlungen zugenommen. „Eine solche Häufung wie in diesem Jahr hatten wir noch nie“, erklärt Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), zur Hochphase im Mai. An allen anderen Tagen fanden maximal 15 Hauptversammlungen statt, ergänzten sogleich die Fachkollegen der SdK Schutzgemeinschaft der Kapital­anleger e.V. „Der 17. Mai und die Tage davor waren sehr herausfordernd“, so Daniel ­Bauer, Vorstandsvorsitzender der SdK. 24 von SdK-Vertretern besuchte HVs seien ein unfreiwilliger „Tagesrekord“ gewesen.

Vor der Zerreißprobe stehen auch die großen Investmentgesellschaften, die ihren Fonds­managern jeweils nur eine Versammlung am Tag zumuten können, ob virtuell oder in Präsenz: „Wo haben wir große Anlage­positionen? Wo können wir etwas verändern durch unser Auftreten? Das sind die beiden Kriterien, nach denen wir die zu ­besuchenden HVs gezielt auswählen“, ­erklärt Ingo Speich, Fondsmanager bei ­Deka Investment. „Wir können maximal fünf Hauptversammlungen an einem Tag besuchen – mehr ist nicht drin.“

Noch nie war die Durchführung der HV für eine börsennotierte AG so herausfordernd wie jetzt.

Torsten Fues, Better Orange

Kontrollverlust durch HV-Ballung

Manche Aktionärsschützer sehen nicht weniger als die Aktionärsdemokratie gefährdet, sollte es in den kommenden Jahren nicht zu einer Entzerrungslösung kommen. Die Argumentation, wie sie auch Gastautor Dr. Marc Liebscher in einem Standpunkt im HV-Magazin 1/2023 (S. 34) zusammenfasste, ist nicht von der Hand zu weisen: Weniger Präsenz bzw. Teilhabe vor allem kritischer Anteilseigner erschwere die Kontrolle; Unternehmen, die etwas zu verbergen hätten, könnten absichtlich Tage mit zahlreichen HVs für ihre eigene Versammlung wählen, um kritischen Fragen zu entgehen.

Technische Pannen bei einigen virtuellen HVs in den vergangenen zwei Monaten ­taten ein Übriges in dieser Saison, um Wortwechsel und Nachfragen einzudämmen. „Die HV-Saison lief bisher recht sperrig, oft kam es zu technischen Ausfällen“, sagt DSW-Hauptgeschäftsführer Tüngler im Gespräch mit GoingPublic. In besonderer Erinnerung bisher: die Versammlungen von Covestro, TUI und Siemens Energy. Bei Covestro dauerte die HV neun Stunden, weil mehr als drei Stunden davon die Technik versagt habe. „Manchmal wussten die Aktionäre zuhause an ihren Rechnern gar nicht mehr, ob die Hauptversammlung noch läuft“, erklärt Tüngler.

Die DSW hat inzwischen einen Störmelder im Netz installiert: Unter www.hauptversammlung.de können Aktionäre Pannen melden. Ob wohl ein Zusammenhang besteht zwischen den eng getakteten Terminen im Mai und den technischen Störungen? „Könnte schon sein“, meint Tüngler. „Dafür gibt es natürlich keine Beweise, aber die Kapazitätsengpässe sind ja ­bekannt im Markt und eine Entzerrung würde hier allen Beteiligten sicher guttun und die Fokussierung auf die einzelne Hauptversammlung erleichtern.“ Am Ende der HV-Saison will die DSW eine qualifizierte Auswertung der Störfälle veröffentlichen, auf die man gespannt sein darf.

Auf den ersten Blick profitieren vor allem HV-Spezialisten von der Knappheitssituation. Auftragsmäßig stimmt das auch. Nicht ­zuletzt der jüngste Zusammenschluss in der Branche zwischen der Link Market Services GmbH und der Better Orange IR & HV AG kommt auch deshalb zustande, weil beide Gesellschaften allein sich zunehmend schwerertaten, genügend erfahrenes Fachpersonal für die wachsenden Anfragen und Wunschtermine von Emittenten bereitzustellen.

Stress führt zu Fehlern und Ausfällen

Doch auch die Gesellschaften, ohne die viele HVs heute technisch gar nicht mehr stattfinden könnten, sehen die Entwicklung durchaus mit kritischem Unterton: So kommentierte Better-Orange-Vorstand Torsten Fues die Fusion gleich nach Bekanntwerden im Mai: „Noch nie war die Durchführung der HV für eine börsennotierte AG so herausfordernd wie jetzt. Nach COVID und der damaligen Sondergesetzgebung haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für Präsenz- und virtuelle Versammlungen noch einmal deutlich verändert, sodass die Bündelung von Erfahrung, Personal, IT und Beratung für unsere gemeinsamen Kunden nur positiv ist.“ Zuvor hatte Link Market einige Fachkräfte an den Branchengrößten verloren: die Computershare Deutschland GmbH & Co. KG.

Terminhäufungen bergen ­Risiken. Die Komplexität für bestimmte Gewerke steigt und die verfügbaren Fachkräfte müssen auf verschiedene Events aufgeteilt werden.

Klaus Schmidt, ADEUS

Mit etwas Abstand zum Personalkarussel, aber dennoch mit Blick auf die Kapazitätsgrenzen äußert sich auch Klaus Schmidt, ­Geschäftsführer der Allianz-Tochter ADEUS Aktienregister-Service-GmbH: „Die Inten­sität hat in diesem Jahr ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Mehr wäre vermutlich bei den Dienstleistern nicht möglich gewesen. Solche Terminhäufungen bergen immer Risiken. Die Komplexität für bestimmte ­Gewerke steigt zwangsläufig und die ­verfügbaren Fachkräfte müssen auf verschiedene Events aufgeteilt werden. Das ist eine große Herausforderung und muss sowohl organisatorisch als auch technisch gut vorbereitet werden.“

Aus Sicht der Dienstleister bedeutet eine derartige Ballung Stress pur, und unter Stress passieren häufiger Fehler.

Bernhard Orlik, Computershare

Bernhard Orlik, früher bei Link Market und seit Anfang des Jahres bei Computershare in der Verantwortung, sieht Risiken und Nebenwirkungen der HV-Ballung für Aktionäre wie HV-Dienstleister gleichermaßen: „Aus Aktionärssicht ist natürlich der Punkt, dass man ernsthaft nur an einer Versammlung gleichzeitig teilnehmen kann. Da gehen sicherlich viele spannende Informationen für alle (großen oder kleinen) Aktionäre verloren und viele Fragen bleiben ungestellt. Aus Sicht der Dienstleister – ich meine damit HV-Dienstleister, Mediendienstleister, Messebau, Sicherheitskräfte, Hotel und Gastro etc. – bedeutet eine derartige Ballung Stress pur, und unter Stress passieren häufiger Fehler.“

Mai 2024 wird noch enger

Das Problembewusstsein ist also durchaus vorhanden. Die Frage ist, ob und wie man die HV-Saison in den kommenden Jahren etwas entzerren kann, zumal einige in der Branche schon jetzt von einer noch ­engeren Taktung im Mai 2024 ausgehen. Bei Stenografin Dischinger etwa kommen ­bereits seit Wochen die Anfragen für die nächste HV-Saison an. „Es zeichnet sich anhand der Anfragen jetzt schon ab, dass der 15. und 16. Mai 2024 in noch viel stärkerem Ausmaß eine Ballung von Aktionärsversammlungen aufweisen wird als der 16. und 17. Mai in diesem Jahr.“ Und es sei bereits absehbar, dass dieser Termin zumindest stenografenseitig nicht beliebig gebucht werden kann: Denn ­anders als in diesem Jahr tagen parallel zur Hauptversammlungssaison die Landesparlamente sowie auch der Bundestag. Einige der für Dischinger und andere freie Stenografenbüros tätigen Kurzschreibspezialisten sind hauptberuflich als Parlamentsstenografen angestellt und unterstützen nebenher als freie Mitarbeiter bei der HV-Saison.

Kunden von anderen Terminen überzeugen

„Ich rechne mit einer Verknappung bei Locations, Stenografen, erfahrenen Anwälten und bei erfahrenen HV-Technikern, was die virtuellen Versammlungen 2024 angeht“, erklärt Elke Strothmann, geschäftsführende Gesellschafterin bei der AAA HV Management GmbH. „Ich lege meinen Mandanten daher jetzt schon nahe, noch viel früher als bisher ihre HV-Termine festzulegen.“ Denn eines ist für Strothmann sicher: „Nach der HV ist jetzt noch schneller vor der HV“, weil durch die Häufung der Mandate noch eher mit allen Planungen gestartet werden muss.

Denselben Weg geht auch Nicola Bader, ­Geschäftsführerin der BADER & HUBL GmbH in Stuttgart: „Wir empfehlen unseren Kunden, möglichst ein Jahr im Voraus einen HV-Termin festzulegen und für die Folgejahre wenigstens zwei Termine für alle ­Beteiligten optional vorzusehen.“

Der ­Deutsche Investor Relations Verband oder das Deutsche Aktieninstitut könnten eine koordinierende Rolle ­einnehmen.

Ingo Speich, Deka Investment

Finanzielle Anreize setzen

Gudrun Moll, Fachanwältin für Bank- und Kapitalmarktrecht bei Pinsent Masons Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, hofft mittelfristig auf eine marktwirtschaftliche Lösung zur Entzerrung der HV-Saison in Deutschland: Man müsse über „finanzielle Anreize“ nachdenken. „Im Rechtsberatungsbereich sind hier die Möglichkeiten begrenzt, aber Dienstleister aus anderen Bereichen könnten z.B. versuchen, über verschiedene Preismodelle für ‚Hauptsaison‘ und ‚Nebensaison‘ einen Anreiz zu schaffen, die Aktionärsversammlungen auf Termine zu verschieben, an denen sich nicht bereits so viele Emittenten tummeln. Gerade für kleinere und mittlere Gesellschaften, die hinsichtlich der Terminierung flexibler sind als Konzerne, könnte dies ggf. den Ausschlag geben, mit ihrer HV auf weniger gefüllte Tage auszuweichen“, ist sie überzeugt.

Dienstleister könnten ver­suchen, über verschiedene Preis­modelle für „Haupt­saison“ und „Neben­saison“
einen Anreiz zu schaffen.

Gudrun Moll, Pinsent Masons

Montage, Freitage und Brückentage nutzen

SdK-Vorstand Bauer setzt auf die Vernunft der Emittenten, die seiner Meinung nach durch etwas mehr Flexibilität selbst einen Gutteil zur Entzerrung der Terminlage beitragen könnten: „Es spricht nichts dagegen, auch mal eine Hauptversammlung an einem Montag oder Freitag abzuhalten statt wie gehabt zwischen Dienstag und Donnerstag.“ Ferner könnten Gesellschaften die Hauptversammlung auch früher im Jahr, etwa ab Mitte/Ende April ansetzen. „Unternehmen wie die MTU, Mercedes-Benz oder ATOSS Software schaffen das regelmäßig“, lobt Bauer. Auch gerade für kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) „aus dem MDAX oder SDAX sollte ein solches Auswahlmanöver prinzipiell kein Problem sein“.

Better-Orange-Vorstand Fues bläst in dasselbe Horn: „Auch „eine HV im Juli ist kein Teufelswerk.“ Computershare-Berater Orlik wäre sogar bereit, die Brückentage anzugehen, um ­Erleichterung für die Kunden wie für das eigene Haus zu schaffen: „Neben den Montagen und Freitagen blieben noch die Freitagsbrücken nach dem Donnerstagsfeiertag.“ Auch dies würde die Termine entzerren.

Kleine Gesellschaften könnten flexibler sein

ADEUS-Geschäftsführer Schmidt sieht wie SdK-Mann Bauer vor allem kleinere Gesellschaften in der Pflicht: „Aus meiner Sicht sind die Möglichkeiten zur Entzerrung der Termine für große Publikumsgesellschaften, die HV-Termine in ihrem Finanzkalender schon Jahre im Voraus planen, begrenzt.“ Und: „Kleinere Häuser sind hier flexibler und können besser reagieren. Ich rate den Kunden, sich frühzeitig mit der Verfügbarkeit der Gewerke zu befassen und sich zu vergewissern, dass der HV-Dienstleister die gewünschten Termine abdecken kann.“

Es spricht nichts dagegen, auch mal eine Hauptversammlung an einem Montag oder Freitag abzuhalten.

Daniel Bauer, SdK

Fazit

Die Vorschläge liegen auf dem Tisch; ob der absehbaren Engpässe könnte die HV-­Organisation im nächsten Jahr damit durchaus auch zur Machtfrage werden. Und hier könnte eine neutrale Instanz gefragt sein, auch um der Aktionäre willen – unter vorgehaltener Hand bestätigen einige Stellen, dass Großkunden bereits mit mehreren Terminen jonglieren und regelrecht das ­Pokern begonnen haben. „Es wäre eine schöne und verdienstvolle Aufgabe für die Industrieverbände, die Entzerrung zu ­koordinieren“, findet DSW-Hauptgeschäfts­führer Tüngler. Deka-Fondsmanager Speich wird konkret: „Der Deutsche Investor Relations Verband und/oder das Deutsche Aktien­institut könnten hier eine koordinierende Rolle einnehmen.“

Und wenn die Montags-HV die Emittenten womöglich weniger kosten würde als die Versammlungen zwischen Dienstag und Donnerstag, dann hätte hier sogar noch die Marktwirtschaft gesiegt. Wir werden berichten.

Autor/Autorin

Simone Boehringer

Simone Boehringer ist die Redaktionsleiterin "Kapitalmarktmedien" der GoingPublic Media AG.