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Der Euroraum erlebt gerade die stärkste Straffung der Geldpolitik seit seinem Bestehen. In den USA muss man für ­vergleichbare Zinssprünge bis in die frühen 1980er-Jahre zurückblicken. 

Die EZB hat ihre Leitzinsen seit Juli 2022 um mehr als 400 Basispunkte angehoben, die Fed hat ihr Tagesgeldzielband sogar um über 500 Basispunkte nach oben geschraubt. Die Zinswelt hat sich durch diesen steilen Anstieg so stark gewandelt, wie dies bis vor Ausbruch des Ukrainekriegs nahezu undenkbar schien. Die Zinsen für langfristige ­Anleihen und Kredite sind seitdem ebenfalls nach oben geschossen. Der Anstieg war allerdings nicht ganz so drastisch wie für kurze Laufzeiten. Zudem sind die langfristigen Zinsen seit Jahresbeginn 2023 ­beiderseits des Atlantiks vorerst in eine Seitwärtsbewegung übergegangen. Beides zusammen bringt das Phänomen einer ­inversen Zinsstruktur mit sich. In dieser Konstellation liegen die kurzfristigen ­Zinsen oberhalb der langfristigen.

Am Anleihenmarkt trifft dies zumindest für Wertpapiere mit sehr hoher ­Bonität zu, z.B. deutsche Bundesanleihen oder US-Staatstitel. In der historischen Betrachtung taucht die Inversion nur ­sporadisch auf.

Inverse Zinsstruktur und die Folgen

So ausgeprägt wie derzeit war der Vorsprung der Kurzfristzinsen zu keinem ­Zeitpunkt in den vergangenen 30 Jahren – weder im Euroraum noch in den USA. ­Assoziiert wird diese Zinskonstellation ­gemeinhin mit der Gefahr einer Rezession. In jedem Fall spiegelt sie eine klare Erwartung der Finanzmärkte bezüglich der künftigen Zinsentwicklung wider: Der Gipfel ist nicht mehr fern. Und auf den steilen ­Anstieg folgt mittelfristig wieder ein merklicher Rückgang.

Sowohl EZB als auch Fed stehen zwar parat, ihren Kampf gegen die hohe Inflation weiter zu forcieren, falls nötig. Die Wirkung der geldpolitischen Straffung schlägt jedoch erst mit Verzug auf Wachstum und Inflation durch. Die Gefahr, den Bogen zu überspannen, nimmt daher zu. Vermehrte Anzeichen für nachlassenden Preisdruck können die Notenbanker mit vorsichtiger Erleichterung zur Kenntnis nehmen, allerdings ohne sich bereits entspannt zurückzulehnen. Insbesondere wäre es voreilig, auf schnelle Zinssenkungen zu setzen.

Normalisierung mit Unwägbarkeiten

Die „letzten Meter“ einer Normalisierung der Inflation könnten sich als steinig ­erweisen, verglichen mit der laufenden ersten Phase. Die EZB sollte ihre Geldpolitik daher nicht vor der zweiten Jahreshälfte 2024 lockern. Die Fed dürfte dies einige Monate früher wagen. Eine Normalisierung der Zinsstruktur wird voraussichtlich einige Zeit beanspruchen. Unwäg­barkeiten bestehen angesichts der ­Schockereignisse der zurückliegenden Jahre und der großen wirtschaftlichen ­Zukunftsherausforderungen zuhauf. Unter­nehmen sollten daher auch kurzfristig ­ihrer Finanz- und Zinsplanung verstärktes Augenmerk schenken.

Autor/Autorin

Elmar Völker

Elmar Völker ist Wirtschaftsmathematiker und Zinsstratege im Research der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) mit Schwerpunkt Euroraum und USA („Fed-Watching“).