Das mit dem Arbeitsmarkt hatte sich der Kanzler wohl etwas anders vorgestellt. Bei einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 2,5 % oder auch mehr wäre die selbst gesteckte Zielmarke von jahresdurchschnittlich 3,5 Mio. Arbeitslosen bis 2002 vielleicht zu erreichen gewesen. Doch der New Economy-Boom währte in unserem Lande nur kurz, seit dem letzten Jahr gewannen die strukturellen Probleme des deutschen Arbeitsmarktes wieder die Oberhand. Die Auswirkungen auf die Beschäftigung ließen nicht lange auf sich warten, die Regierung Schröder sah sich zum Handeln gezwungen. Ein erster Schritt war eine Radikalkur für die Bundesanstalt für Arbeit (wobei der Anstoß dazu auch von „außen“ kam, nämlich vom Bundesrechnungshof), als nächstes sollte das JOB-AQTIV-Gesetz die Effizienz der Arbeitsvermittlung erhöhen, sogar Kombilohnmodelle waren plötzlich en vogue.
Schnell stellte sich heraus, daß die ergriffenen Maßnahmen bis zur Wahl im September nicht greifen werden bzw. auch darüber hinaus keine durchgreifenden Erfolge erwarten lassen. Die Einberufung einer Kommission, die (schnelle) Wege aus der Jobmisere aufzeigen und somit arbeitsmarktpolitische Kompetenz dokumentieren soll, lag also auf der Hand. Peter Hartz, als Vorstand bei VW für Personalfragen zuständig, sollte als Chef der Kommission mit unkonventionellen Ideen und Vorschlägen in Sachen Arbeitsmarkt die Meinungsführerschaft für die Regierung zurückerobern. Die Ergebnisse der „Hartz-Kommission“ ließen dann auch nicht lange auf sich warten, dank gezielter Indiskretion und professioneller Inszenierung im „Spiegel“ kamen sie sogar deutlich früher als geplant an das Licht der Öffentlichkeit.
Die Reformvorschläge verbinden Altbekanntes mit neuen Ideen. So soll das Arbeitslosengeld in der Höhe und der Bezugsdauer reduziert, die Zumutbarkeitskriterien für die Annahme niedrig bezahlter Jobs weiter verschärft werden. Jedem Arbeitsamt soll eine Leiharbeitsfirma angeschlossen werden, die Arbeitslose unter Vertrag nimmt und diese an Unternehmen zunächst „ausleiht“. Bezieher von Lohnersatzleistungen, so ein weiterer Vorschlag, sollen, anstatt schwarz zu arbeiten, eine Art Selbständigen-Status annehmen dürfen, der ihnen neben dem Arbeitslosengeld Einkünfte erlaubt, die dann mit einem niedrigen Satz pauschal versteuert werden. Diese und andere Vorschläge fordern von den Betroffenen mehr Eigeninitiative, propagieren betriebsnahe Lösungen.
Daß die Ideen des Kommissions-Papiers einen teilweise innovativen Charakter besitzen, darf aus der Kakophonie der Reaktionen geschlossen werden. Dabei läßt sich die sonst übliche eindeutige Lagerbildung nur schwer ausmachen. Nachdem sich einige oberste Gewerkschaftsfunktionäre zunächst reflexartig in schroffer Ablehnung des Papiers übten, setzte sich auch bei diesen sehr schnell die Kanzlerlinie durch. Demnach seien die Vorschläge grundsätzlich positiv zu bewerten, da sie eine echte Chance böten, Fortschritte auf dem Arbeitsmarkt zu erzielen. Über einzelne sozialpolitische Grausamkeiten müsse man im Detail natürlich noch reden. Das Kalkül ist klar: Die Chance, beim Wähler wirtschaftspolitisches Profil zu gewinnen wird, vom Kanzler höher eingeschätzt als das Risiko, die eingefleischte sozialdemokratische Klientel zu verschrecken.
Weniger klar – und wohl ebenfalls Bestandteil des Kalküls – die Reaktion der Union. Während CDU-Wirtschaftspapst Lothar Späth die Vorschläge als ein „richtig mutiges Konzept“ bezeichnete, kapriziert sich Kanzlerkandidat Edmund Stoiber (vermeintlich) wahlkampfgerecht auf die drohenden Einschränkungen beim Arbeitslosengeld. Diese seien sozial ungerecht und widersprächen elementar dem Versicherungsprinzip. Eine erstaunliche Feststellung, wenn man bedenkt, daß in den letzten Jahren die Ausgaben für Lohnersatzleistungen nur mit Hilfe von Bundeszuschüssen gedeckt werden konnten. Zudem stünde eine mögliche Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung und damit eine Reduzierung der Lohnnebenkosten gewiß nicht im Widerspruch zum Versicherungsprinzip.
So verhält es sich eben in Wahlkampfzeiten. Wenn es um die Gewinnung der Zuneigung des unbekannten Wesens – des Wählers – geht, vertauschen Rechts und Links schon mal ihre Positionen, werden Sozialdemokraten zu Reformakrobaten und Konservative zu Sozialstaatsbewahrern. Aber das macht die Politik ja so spaßig – vielleicht aber auch nur nervtötend und vorhersehbar.
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