Steve Ballmer, den Gates vor zwei Jahren bereits zum Microsoft ‚President“ befördert hatte, ist die neue Nummer eins. Steve – von Branchenkennern ohnehin als eigentlicher Macher und Manager Microsofts angesehen – ist das perfekte Gegenstück zu Bill. Während Bill die Rolle des grüblerischen, technologiebegeisterten Zukunftspropheten übernimmt, gilt der extrovertierte Steve als Verkaufsgenie und Motivationskünstler. Seine unbändige Kampfeslust und sein Siegeswille werden oft als ein Teil des Erfolgsgeheimnisses Microsofts genannt. „Auf Gates könnte Microsoft verzichten, auf Ballmer nicht“, kommentierte ein Microsoft Mitarbeiter gegenüber der amerikanischen Presse die Personalie.
Was das Microsoft Management angeht, wird sich also de facto nichts ändern. Bill Gates, noch immer Vorsitzender des Verwaltungsrates, hat sich selbst zum Häuptling der Softwareentwickler ernannt. Er wolle sich wieder mehr auf das konzentrieren, was ihn am meisten fasziniert, nämlich die Entwicklung großartiger Software, erläuterte Gates. Das ist Bill Gates, wie wir ihn kennen. Eigentlich ist ihm das „daily business“ zuwider. Er ist zu uneitel, um sich für einen Titel wie CEO begeistern zu können. „Ich habe den besten Job der Welt“, hat Gates vor einigen Jahren noch gesagt. In den letzten Jahren schien er jedoch mehr gelangweilt und gestresst. Das Kartellverfahren, die zunehmende Popularität von Linux, der Erfolg von Sun und jetzt auch noch AOL Time Warner… Nun wird Steve sich mit all diesen Problemen auseinandersetzen müssen.
Bill Gates hingegen möchte Microsoft fit machen für die Post-PC-Ära. Ob Haushaltsgeräte, mobile Kommunikationsmittel oder Minicomputer, die Zukunft braucht eine völlig neue Software für völlig neue Anwendungen. Microsoft muß sich selbst neu erfinden und steht vor der größten Herausforderung aller Zeiten. Bill Gates weiß, daß er der richtige für diese Aufgabe ist.
So zumindest die offizielle Mär. Die Story ist logisch und sie nährt die alten Klischees des harmlosen, technologieverliebten Bill Gates und des aggressiven Machers Steve Ballmer.
Eine andere Lesart ist diese: In den letzten Tagen sind Gerüchte aus dem Justizministerium an die Öffentlichkeit gedrungen, wonach Microsoft zerschlagen werden soll. Was Gates schon in der Vergangenheit befürchtet hat, scheint sich abzuzeichnen: Microsoft wird aufgeteilt. Gates beschließt zurückzutreten. Ballmer wird so als Führungsfigur vorbereitet, um später eine Baby-Microsoft (mutmaßlich die für Anwendungssoftware) übernehmen zu können. Gates positioniert sich im Herzen des Unternehmens, plant NGW (Next Generation Windows) und sieht sich als neuer CEO einer Microsoft-Einheit für Betriebsysteme. Bevor es zu einer endgültigen Gerichtsentscheidung kommt, die vermutlich eine Dreiteilung Microsofts bedeuten würde (Betriebssysteme, Anwendungssoftware und Internetanwendungen), wird Gates vorschlagen, das Unternehmen „freiwillig“ entzwei zu teilen. Die Lage ist ernst. Retten was zu retten ist – so lautet die Devise.
Die nächsten Monate werden uns zeigen, welche Version näher an der Wahrheit liegt.
Die GoingPublic-Kolumne erscheint börsentäglich in Zusammenarbeit mit dpa-AFX.