Auch die glorreichsten Zeiten haben stets ihre Schattenseiten. Jetzt warten wir also wieder einmal auf den Weihnachtsbraten, doch eigentlich sind wir schon so fett, dass wir ihn gar nicht mehr herunter bringen. In der gesamten Geschichte der Menschheit ist es noch niemals irgendwo so gut gegangen wie heute hierzulande, auch wenn unser Vermögen letztlich ein paar Einbußen zu verzeichnen hatte.

Doch wenn es der Kuh zu wohl ist, dann geht sie aufs Eis. Und jetzt steht sie dort und fürchtet sich, dass das Eis einbrechen könnte. Wirtschaftskrisen haben heute auch einen sehr eigenartigen Charakter. Sie sind mit unseren Sinnen nicht mehr wahrzunehmen. In früheren Jahrhunderten haben die Menschen sehr schnell gemerkt, was passiert. Da musste man nur auf den Himmel schauen, sich überlegen, wie die Ernte wird, und dann wusste man alles über eine Krise und eine Nicht-Krise.

Doch heute? Heute beobachten wir, dass selbst Moderatorinnen von Nachmittagssendungen im Fernsehen von „Weltwirtschaftskrise“ reden. Ich denke, wir sollten es hier ähnlich wie beim Begriff vom Holocaust halten und ihn uns für historische Einzigartigkeiten aufsparen. Natürlich ist heutzutage jede Krise über die Verflechtung der Märkte auch eine weltweite Krise, doch von „Weltwirtschaftskrise“ zu sprechen, halte ich für überaus fahrlässig.

Als ich im Jahr 2007 alle meine Aktien verkauft habe, da dachte ich, dass wir eine Krise bekommen. Da war ich der Meinung, die Stimmung sei weit besser als die fundamentale Lage. Die Stimmung sei viel zu gut. Heute hingegen, wo jeder Laie von „Weltwirtschaftskrise“ spricht, glaube ich, dass das Gegenteil der Fall ist. Wir alle rechnen mit einer heftigen Krise, die Märkte rechnen damit, doch ich denke, dass wir ebenso überrascht werden wie vorher – nur dieses Mal in Richtung nach oben.

Warum haben wir alle plötzlich aufgehört, Autos zu kaufen? Ich behaupte, wenn es die weltweite Katastrophen-Berichterstattung nicht gegeben hätte, dass dann eine derartige Krise am Automarkt nicht entstanden wäre. Womit wir derzeit kämpfen, das sind die Folgen unseres Vertrauensverlustes. Von daher ist die gegenwärtige Krise ein sehr moderne Krise: Es ist nicht mehr wie früher so, dass das Vertrauen durch die sich verschlechternden Fundamentaldaten herunter gezogen wird, sondern vielmehr umgekehrt: Die Fundamentaldaten werden durch das mangelnde Vertrauen verschlechtert.

Erzählt man dem Patienten, der im Krankenhaus liegt, dass es sehr schlecht um ihn steht, wird er sich weit elender fühlen als wenn man ihm signalisiert, dass es eine Harmlosigkeit ist, an der er leidet. Das soll nicht heißen, dass wir uns nicht in einer deutlichen Rezession befinden. Doch wird es uns an den Abgrund führen, wenn unser Wohlstand temporär auf das Niveau von vor zwei Jahren zurück fällt?

Wir sind heute wie ein Zahnarztpatient, der bereits beim Anblick der Spritze ohnmächtig wird. Alles wird übertrieben bis sich die Balken biegen – nach oben wie nach unten. Wir sind völlig aus dem Lot geraten. Doch mir scheint diese Entwurzelung eher ein Systemphänomen zu sein als eines, das auf die Krise des Systems hinweist.

Wehleidige Lappen sind wir geworden, und die Medien sind unser System der neurotischen Selbstbespiegelung. Aber wahrscheinlich muss das so sein. Früher hätte man die Ärmel hochgekrempelt und angepackt. Doch wo in der komplexen Welt von heute soll man noch anpacken? Da draußen ist nichts von Krise zu spüren. Doch wir leben in einem System, in dem der gefräßige Drache zuschnappt, bevor wir ihn überhaupt sehen. Vorwarnungen und der gesunde Menschenverstand, das war gestern. Heute surfen wir alle auf der großen Welle der Kommunikation. Binnen weniger Jahrzehnte ist alles vollkommen anders geworden – und trotzdem gleich geblieben. Damit muss man aber erst einmal fertig werden.

Bernd Niquet

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