Steigen die Ölpreise, dann steigt auch die Inflation, so lautet eine gängige Formel. Dann muss die Notenbank bremsend tätig werden und zwingt die Wirtschaft damit in Knie, weswegen wir es dann mit einer Stagnation des Wachstums bei gleichzeitig steigenden Preisen zu tun haben. So die weitergehenden Ängste, die nicht nur die Börsianer hierzulande nervös machen.

Doch ist das tatsächlich richtig, so zu argumentieren? Ich halte das für einen weitgehend unstimmigen Analogieschluss zur Entwicklung in der 70er Jahren. Doch das Szenario ist völlig anders als damals! Deswegen kann es meiner Ansicht nach auch keine Übertragung der Ereignisse geben.

Richtig ist, dass unsere Volkswirtschaften damals wie heute durch eine sprunghafte Verdopplung des Ölpreises geschockt wurden. Doch man schaue sich das Umfeld dazu an: In den 70er Jahren ging es um zweistellige Lohnerhöhungen, da gab es abgeschottete Arbeitsmärkte und mächtige Gewerkschaften, die einen „Schluck aus der Pulle“ nehmen wollten.

Doch nichts davon heute. Nicht nur die Arbeitsmärkte sind mittlerweile internationalisiert, die Gütermärkte sind es ebenso, so dass heftige Preisanhebungen nur schwerlich machbar sind, da dann sofort ein neuer Anbieter von Arbeit und Gütern auf der Matte steht.

Für die Produkte, deren Weltmarktpreis sich sprunghaft erhöht hat, gilt dies freilich nicht. Hier werden – in kleinerem oder größeren Ausmaß – die gestiegenen Preise weiter gegeben. Doch das ist keine Inflation! Eine Inflation ist ein kumulativer Prozess einer Preis-Lohn-Spirale, in dem das eine Element das andere aufschaukelt und seinerseits von diesem wieder erneut in die Höhe getrieben wird. Hier muss die Notenbank eingreifen, hier bildet sich eine Inflationsmentalität heraus, die gestoppt werden muss. Hier ist der Geldwert in Gefahr.

Doch wenn Rohstoffe weltweit knapper und damit teurer werden, dann ist der Geldwert nicht in Gefahr. Das ist keine Inflation. Und kein kumulativer Prozess. Hier muss die Notenbank folglich nicht eingreifen. Es wäre ja auch völlig widersinnig, zu glauben, Ölpreissteigerungen ließen sich durch die Geldpolitik bekämpfen. Man sollte einer derartigen Romantik daher keinesfalls nachhängen.

Das, was mit uns jetzt passiert, ist einerseits harmloser, andererseits jedoch weit gravierender. Das gegenwärtige Szenario ist harmloser, weil es keine Bedrohung des Geldsystems durch den Virus der Inflation gibt. Sie ist andererseits jedoch weit gravierender tangiert als in den 70er Jahren, weil wir nicht von einem einmaligen, politisch bedingten Schock ausgehen können, sondern uns auf die Dauerhaftigkeit der Verteuerung der Energie einstellen müssen. Und das bedeutet einen Wohlstandsverlust.

Die westlichen Industrieländer, die von Rohstoffeinfuhren abhängig sind, werden Wohlstandsverluste hinzunehmen haben. Punkt. Und daran führen kein Gerede, keine Romantik, keine Geldpolitik, keine Hysterie, keine Politik und keine Umverteilungsmaßnahmen vorbei. Wir bekommen keine Inflation und keine Stagflation – die Geschichte wiederholt sich nicht. Was wir jetzt bekommen, ist historisch neu. Wie könnte man es beschreiben? Steigende und sinkende Preise zur gleichen Zeit, keine Stagnation, sondern Wachstum. Nach außen also alles positiv, dafür jedoch deutliche Verwerfungen im Inneren, eine immer größer werdende Umverteilung von unten nach oben.

Die nächste große Bedrohung, der wir uns zu stellen haben, wird nicht so leicht zu erspähen sein wie die Inflation in den 70er Jahren.

Bernd Niquet

Die GoingPublic Kolumne ist ein Service des GoingPublic Magazins, Deutschlands großem Kapitalmarktmagazin. Bezogen werden kann das Magazin unter www.goingpublic.de. GoingPublic ist allein für die Inhalte der Kolumne verantwortlich. Informationen zu einzelnen Unternehmen stellen keine Aufforderung zum Kauf bzw. Verkauf von Aktien dar. Die Kolumne erscheint wöchentlich in Zusammenarbeit mit dpa-AFX.

 

Autor/Autorin