Niemand soll behaupten, am Neuen Markt herrsche Stillstand. Einige Unternehmen flüchten freiwillig mit wehenden Fahnen aus dem Segment, andere werden von der Börse zwangsweise entfernt. Die Suche nach dem allwöchentlichen Aktienskandal erinnert an das Spiel „Reise nach Jerusalem“, mancher Vorstand wird den Auftritt vor seinen Aktionären auf der Hauptversammlung als Gang nach Canossa empfinden, manch anderer im fortgeschrittenen Stadium macht eher den Gang zum Insolvenzrichter. Und auch die Kurse zeigen Bewegung – wenn auch hauptsächlich nach unten. Anteilsrückläufe saugen die durch Aktienverkäufe mühsam zusammengestöpselten Bargeldbestände wieder auf. Zwangsregulierte Depots klammer Privatanleger sorgen für weiteren Nachschub an unlimitierten Verkaufsorders. Fundamentale Bewertungsmaßstäbe zählten schon zu Boomzeiten nicht viel, heute erst recht nicht – wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen.

Fällt ein Aktienkurs deutlich unter den (wie auch immer ermittelten) inneren Wert einer Aktie, so werden für die kleinen Anlagesummen die Value-Investoren und für die großen Summen die Geier der Börse wach. Die üppigen Kassenbestände aus den Börsengängen regen die Phantasie manch potenten Aufkäufers an, der den verzweifelten „Nichts-wie-weg-damit“-Verkäufern ihr Material dankbar abnimmt. Es gibt verschiedene Varianten, ans begehrte Bare zu gelangen: Liquidation, Unternehmensrecycling mit voller Kasse und neuem Geschäftsmodell oder der Mißbrauch der Publikumsgesellschaft als Spar- und Leihkasse eines bargeldhungrigen Großaktionärs. In allen Fällen fühlt sich der Anleger zu Recht unbehaglich, da er neben massiven Kursverlusten auch nicht mehr das hat, was er eigentlich in Ansehung des Emissionsprospektes kaufen wollte.

Mit zunehmender Ausschöpfung der Kreditlinien (falls ein Unternehmen solcherlei nicht längst aufgekündigt bekommen hat) macht sich, da Kapitalgeber aller Orten ihr letztes Pulver trocken halten, bei Vorständen eine Sparwut breit, die der just verflüchtigten Werbe- und Selbstdarstellungswut in nichts nachsteht. Ganz oben auf der Streichliste: das Marketingbudget. Wozu auch Investor Relations pflegen? Die Anleger haben ihr Geld doch beim IPO schon abgeliefert. Bis zur nächsten Kapitalerhöhung, die zur Zeit ohnehin nicht unterzubringen ist, kocht man nicht nur auf Sparflamme, sondern schaltet den Herd am besten ganz ab. Einige Unternehmen haben die Notierung am Neuen Markt als kostspielige Last erkannt und lassen sich in den Geregelten Markt degradieren.

Knapp acht Monate ist die deutsche Wachstumsbörse nun auch schon ohne Nachschub: init war am 24. Juli 2001 der vorerst letzte Neuling. Statt dessen bereinigt sich das Segment nach und nach. Nach 337 gelisteten Titeln im Vorjahr und ca. 350 in der Spitze ist der Neue Markt auf aktuell 319 Unternehmen geschrumpft. Kann man von evolutionären Tendenzen am Aktienmarkt sprechen? Seit Jahresbeginn 2002 verzeichnet das High Tech-Segment etwa fünf Abgänger pro Monat.

Der Börsendarwinismus schlägt zu und bereinigt den Markt durch Insolvenzen wie die von Biodata, Brokat, Carrier 1, Lobster oder Micrologica. Freiwillige Downgrader wie buch.de, Blue C, Camelot, aeco, Kinowelt oder Saltus wollen Geld sparen und flexibler agieren – oder erfüllen die Streubesitzkriterien nicht mehr. Fusionierer wie Viva/Brainpool oder Tomorrow/Focus suchen ihr Heil in Synergien und kritischer Größe. Abfindungskandidaten wie Condat oder Kretztechnik winken mit Bargeld. So angenehm eine Abfindung kurzfristig sein mag (wie die Kursexplosionen bei deren Bekanntgabe eindrucksvoll unterstreichen), bleibt ein schaler Nachgeschmack beim Gedanken, daß vor sehr kurzer Zeit dieselben Aktien teuer unters Volk gebracht wurden.

Kein Beobachter wird sich zudem über das tief sitzende Mißtrauen wundern, denn noch immer wird von vielen Firmen in Presse- und Ad hoc-Mitteilungen statt dem Stand der Dinge hauptsächlich Bilanzpoesie verbreitet. Die unangenehme Neuigkeit muß leserseitig erst einmal herausgeschält werden. Auch bei bis zuletzt hochgeschätzten und als solide geltenden Adressen wie D.Logistics muß man sich an Kurseinbrüche und Existenzgefährdung gewöhnen.

So depressiv, wie die Stimmung derzeit ist, müßten die Börsenpsychologen einstimmig „Kaufen!“ schreien. Wer sich an die goldene Regel hält, ein Unternehmen zunächst ein paar Jahre an der Börse zu beobachten, konnte sich bislang viele Versager und zwielichtigen Konstrukte ersparen. Der Reifegrad des Neuen Marktes nimmt weiter zu. Die nachträglich installierten Regeln und Sanktionen scheinen halbwegs zu funktionieren. Der Zeitpunkt sollte absehbar sein, daß sich junge Wachstumsunternehmen wieder seriös über das für sie geschaffene Marktsegment finanzieren können. Tip für Eilige: Ein Blick in die Kauflisten der Insider kann viel Analysearbeit ersparen.

Dieser Beitrag erscheint in einer ungekürzten Variante im neuen GoingPublic Magazin 4/2002, das Abonnenten am 16. März zugestellt bekommen bzw. ab dem 20. März im Bahnhofsbuchhandel erhältlich sein wird.

Die GoingPublic Kolumne jeweils montags, mittwochs und freitags in Zusammenarbeit mit dpa-AFX.

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