Auf der Suche nach dem treffsicheren Analyse-Werkzeug zeigt sich, daß die Antwort auf die Frage, ob eine Aktie über- oder unterbewertet ist, auch vom „historischen“ Standpunkt des Betrachters abhängen kann.

Aktienkurse sind in der Vergangenheit nicht nur gestiegen, weil die Gesamtwirtschaft expandierte und so die Unternehmen ihre Umsätze und Gewinne steigern konnten, sondern auch weil sich die Bewertungsmodelle über die Jahrzehnte verändert haben. So galt eine Aktie um 1850 nur als billig, wenn ihr Kurs unterhalb des in der Bilanz des Unternehmens ausgewiesenen Buchwertes lag. Inzwischen sind selbst Standardwerte wie etwa Schering weit davon entfernt, dieses Kriterium zu erfüllen. Von Wachstumstiteln wie Qiagen oder MorphoSys ganz zu schweigen. Mit dem Siegeszug der Eisenbahn-Gesellschaften und der Banken um 1870 ging ein enormer Börsen-Boom einher. Dabei war zu beobachten, daß immer mehr Aktien gerade dieser „New Economy“-Branchen dauerhaft über ihrem Buchwert notierten. Ein neuer Bewertungsindikator mußte also gefunden werden. Dieser war mit der Dividenden-Rendite schnell zur Hand. Die Rechnung: Eine Aktie sollte mindestens genauso viel Rendite durch laufende Zahlungen, also Dividenden, erbringen wie ein festverzinsliches Wertpapier. Lag die Dividendenrendite unterhalb der 3,5 %, mit der die preußischen Staatsanleihen damals etwa verzinst wurden, so war die Aktie zu teuer.

Diese Vorstellung vom Wert einer Aktie hatte lange Bestand und überdauerte beide Weltkriege. Erst in den 60er Jahren zu Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders sollte sich dies ändern. Im Zuge eines zehnjährigen Börsen-Booms war zu beobachten, daß vor allem amerikanische Investoren deutsche Aktien kauften, obwohl diese gemäß dem Dividendenrendite-Kriterium mittlerweile eindeutig zu teuer geworden waren. Schließlich offenbarte sich den deutschen Anlegern der Grund für das nicht nachlassende Interesse an ihren Aktien. In Amerika hatte sich das Kurs-Gewinn-Verhältnis als vorherrschende Bewertungskennzahl etabliert. Nach diesem neuen Kriterium waren deutsche Dividendentitel billig, denn das KGV der Aktien war niedriger als das „KGV“ langlaufender Bundesanleihen, das sich aus 100 geteilt durch die Rendite in Prozent ergibt.

Bewertungskennziffern und -modelle wie das Kurs-Cash-Flow-Verhältnis (KCV), der Economic Value Added oder der Price-Earnings-Growth-Factor haben sich seit den 80er Jahren zunächst aus akademischen Kreisen in die Industrien rund um die Kapitalmärkte verbreitet. Seit den 90er Jahren haben sie auch sukzessive den Privatanleger erreicht – mehr oder weniger. Das KGV wird nach wie vor benutzt, jedoch zuweilen mit modifizierten Gewinngrößen. So bleiben beim EBIT (Earnings Before Interest and Taxes) etwa die Zins- (Interest) und Steueraufwendungen (Taxes) unberücksichtigt, das EBITDA enthält sogar noch die Abschreibungen (Depreciation and Amortisation). Um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß viele Unternehmen noch keine Gewinne erwirtschaften, hat sich das Kurs-Umsatz-Verhältnis (KUV) als Kennziffer durchgesetzt. Allerdings fehlt hier die eindeutige Interpretationsmöglichkeit: Ist ein KUV von 15 nun teuer und wenn ja, warum? Aber zumindest lassen sich so börsennotierte Wachstums-Unternehmen einer Branche untereinander vergleichen. Problematisch ist, daß diese Kennziffern nicht mehr an Gewinngrößen ansetzen. Damit wird das wichtigste Motiv unternehmerischer Tätigkeit, nämlich die Gewinnerzielung, außer Acht gelassen.

Der methodisch sauberste Ansatz zur Bestimmung des Unternehmenswertes ist nach wie vor das DCF-Modell mit der Diskontierung der zukünftigen Einzahlungsüberschüsse, also der Free Cash Flows. Aber auch dabei gibt es Unschärfen, vor allem bei der korrekten Bestimmung des Abzinsungsfaktors. Bei der Beurteilung junger Unternehmen, etwa aus der Biotechnologie, wird daher zusätzlich verstärkt auf die sogenannten weichen Faktoren, also zum Beispiel die Qualität der Technologie, der Produkte und des Managements zurückgegriffen. Da hier aber keine objektiven Werturteile gefällt werden können, wird auch immer ein gewisses „Bauchgefühl“ bei der Aktienanalyse eine Rolle spielen.

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