Wie ist das zu erklären? Ich denke, dass es viel mit der radikalen Veränderung der Struktur unseres Wirtschaftens in den letzten Jahrzehnten zu tun hat. Wir reden zwar noch alle vom „Manchester-Kapitalismus“, haben jedoch noch nicht begriffen, dass dieses Muster längst der Vergangenheit angehört – und durch seine Nachfolgevariante ersetzt worden ist, den MADchester-Kapitalismus.

Die Industrielle Revolution war die Geburtsstunde des Manchester-Kapitalismus. Hier ging es primär darum, eine darbende Bevölkerung mit Konsumgütern zu versorgen. Die Produktion und die Realwirtschaft stellten folglich auch das Gravitationszentrum des Wirtschaftsprozesses dar. Hierum drehte sich die wirtschaftliche Welt – und die Finanzmärkte stellten nur ein passives Abbild oder Spiegelbild davon dar.

Heute jedoch bilden die Produktion und die Realwirtschaft nicht mehr das treibende Moment der Wirtschaft. Heute ist der Produktionsprozess natürlich weiterhin wichtig, doch er wird zur abgeleiteten Größe des dahinter stehenden Drucks zur Verwertung und Ertragserzielung riesiger, inzwischen angesammelter Vermögenswerte. Das primäre Ziel des Wirtschaftens besteht nicht mehr in der Verbesserung der Güterversorgung, sondern der Mehrung der Erträge des Vermögens.

Bildlich gesprochen kann man daher sagen: Wurden die großen Volkswirtschaften der Industriestaaten von der Industriellen Revolution bis in die letzten Ausläufer der Nachkriegszeit hinein von einem Gütervakuum hinter sich hergezogen, so werden sie heutzutage von einer riesigen Vermögenslawine vor sich her geschoben. In der volkswirtschaftlichen Terminologie ausgedrückt, hat sich eine Flow-Ökonomie recht plötzlich in eine Stock-Ökonomie gewandelt. Es sind nicht mehr die Stromgrößen wie das Einkommen oder die Ersparnis, die über das Schicksal entscheiden, sondern die Verfügung über Vermögensbestände. Die Markthierarchie hat sich damit komplett umgedreht: Es sind nicht mehr die Gütermärkte, die die Finanzmärkte dominieren und zu ihrem Spiegelbild „degradieren“, sondern es sind die Finanzmärkte, welche nunmehr die Gütermärkte nach ihrem Gutdünken steuern.

Damit jedoch gelten alle alten wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr. Aus den Fabrikherren von Manchester sind anonyme Vermögensanleger geworden, die in Zusammenarbeit mit dem Management das alleinige Ziel haben, die Rendite immer weiter zu steigern. Aus der alt hergebrachten produktionsbasierten Wirtschaft ist eine verrückte (=mad) Nachfolgevariante des Manchester-Kapitalismus geworden – eben der MADchester-Kapitalismus.

Die Vermögenslawine hat mittlerweile so unglaubliche Formen angenommen, dass anscheinend selbst ein Abschmelzen an den Rändern, wenn sie auf ein heißes Pflaster trifft, wie wir das gegenwärtig erleben, ihr letztlich nichts anhaben kann. Sie wälzt sich den Naturgesetzmäßigkeiten entsprechend weiter und begräbt alles andere unter sich. Und die einzige Sorge, die man haben kann, ist, dass, um auf die Anfangsmetapher zurückzukommen, das fieberfreie Kurieren durch Tabletten irgendwann einmal einen Herzinfarkt bewirkt. Doch solange das nicht geschieht, bleibt anscheinend alles gut. Das mag seltsam klingen, doch die Herzinfarktforschung bei Lawinen befindet sich tatsächlich noch nicht einmal in den Kinderschuhen.

Bernd Niquet, Börsenkolumnist und Buchautor

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