Die Wesentlichkeitsanalyse ist zusammen mit der (vorgelagerten) Stakeholderanalyse in der Regel der Start für die Integration von Nachhaltigkeitsaspekten im Unternehmen. Sie dient dazu, wichtige Anspruchsgruppen zu beteiligen und relevante Themen aus den Bereichen Umwelt, Soziales und Governance (ESG) zu identifizieren. Mit der EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung wird auch die Wesentlichkeitsanalyse zur Pflicht und zum Initial für die Nachhaltigkeitsstrategie sowie zum bedeutenden Steuerungsinstrument für das Nachhaltigkeitsmanagement.

In der Nachhaltigkeitsberichterstattung wurden bisher Wesentlichkeitsmodelle etabliert, die z.B. die Intensität der Auswirkungen der Geschäftstätigkeit auf die Umwelt und die Gesellschaft sowie die Erwartungen und Interessen der Stakeholder dokumentierten. Nun gilt es, den Blick auf die Perspektiven der doppelten Wesentlichkeit zu lenken:

Die Inside-out-Perspektive (Impact Materiality) dokumentiert die tatsächlichen oder die potenziellen, positiven oder negativen, direkten und indirekten Auswirkungen der Aktivitäten von Unternehmen auf die Menschen und auf die Umwelt entlang der Wertschöpfungskette (Impact-Bewertung).

Die Outside-in-Perspektive (Financial Materiality) umfasst die Risiken und Chancen, die erhebliche finanzielle Auswirkungen auf die Entwicklung, Leistungen und die Marktposition des Unternehmens haben können.

Somit ist die Analyse (Medienanalyse, Social-Media-Screenings, Workshops, Interviews, Onlinebefragungen) nach dem Prinzip der doppelten Wesentlichkeit – ­gemäß der Corporate Sustainability ­Reporting Directive (CSRD) – extrem spannend, aber auch keine triviale Angelegenheit. Sie verlangt von Unternehmen z.B. eine intensive Auseinandersetzung mit den Themen Umwelt und Klima (etwa Biodiversität, Umweltverschmutzung), Mensch (Menschenrechte, Soziales), Gesellschaft, nachhaltige Wirtschaft (Kreislaufwirtschaft etc.) sowie Regulatorik (EU-Taxonomie, Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz) verpflichtend im Lagebericht. Im Grunde ist dies die perfekte Ausgangslage für die Entwicklung ­eines fundierten Themenmanagements zur Nachhaltigkeitskommunikation (über die Pflichtberichterstattung hinaus) und Impuls für eine nachhaltige Transformation (Sustainable Shift).

Die Beschäftigung mit den wesentlichen Themen trägt zudem dazu bei, Gewissheit über die nachhaltige Ausrichtung zu erlangen sowie einen Fahrplan (Identifikation, Engagement, Priorisierung und Aktivierung) als strategischen Handlungsrahmen für künftige Nachhaltigkeitsmaßnahmen zu erstellen.

Das „SuShi-Modell“ berücksichtigt die wichtigsten Aspekte und bezieht darüber hinaus die Sustainable Development Goals (SDGs) in die Wesentlichkeitsanalyse ein. Das Modell dient zunächst als Fundament zur Orientierung und soll individuell mit den relevanten Nachhaltigkeitsaspekten und -themen befüllt werden (passend zum Geschäftsmodell und zu den Aktivitäten sowie z.B. hinsichtlich der expliziten ­Bedürfnisse der Mitarbeiter und Kunden). Der Vorteil des SuShi-Modells ist es, entgegen einer rein statischen Dokumentation der Verortung von Themen auf einer X-Y-Matrix, die Perspektive, die Gewichtung (Skalierung) und die aktive Komponente (Einflussnahme) zum Ausdruck zu bringen.

Gemäß CSRD ist ein Thema dann wesentlich für die Berichterstattung, wenn es aus der Inside-out-Perspektive oder aus der Outside-in-Perspektive oder aus beiden Perspektiven – mit Blick auf Prioritäten und die Relevanz für die Stakeholder sowie die Möglichkeiten zur Einflussnahme – als wesentlich eingestuft werden kann. Ein Thema ist somit – im Kontext des jeweiligen themenspezifischen ESRS-Standards – berichterstattungspflichtig, wenn es nur aus einer der beiden Perspektiven als wesentlich eingestuft wird. Das macht es nicht leichter.

Das Modell zeigt außerhalb des Wirkungskreises (schwarzer Ring) die Auswirkungen der Geschäftstätigkeit. Alles innerhalb des Wirkungskreises betrifft die Outside-in-Perspektive (hier
nicht dargestellt). Quelle: wirDesign

Das Wesentliche einer ­Wesentlichkeitsanalyse

1. Die Wesentlichkeitsanalyse ist die Basis für einen regelmäßigen Stakeholderdialog mit Blick auf die Themen entlang der Bedürfnisse und Erwartungen der Stake­holder (Lieferanten, Geschäftspartner, Kunden, Mitarbeiter, Arbeitnehmervertretung, Investoren, Aktionäre, Zivilgesellschaft, Medien, Gewerkschaft, Verbände, Behörden etc.) zur Festigung der Loyalität und des Vertrauens gegenüber der Marke.

2. Die mit der Wesentlichkeitsanalyse identifizierten Themen sind nicht nur relevant für die Berichterstattung nach ESRS: Sie sind zugleich das Material für das Themenmanagement im Zuge der Nachhaltigkeitskommunikation, die weit (und langfristig) über die Pflichtberichterstattung hinausreicht. In der Betrachtung der Themen liegt zudem das Potenzial zur Formulierung von Alleinstellungsmerkmalen und zur nachhaltigen Positionierung als zukunftsfähige Marke.

3. Der Prozess der Wesentlichkeit dient als positiver Treiber der Nachhaltigkeitsstrategie sowie der Verankerung des Nachhaltigkeitsmanagements im Unternehmen. Risiken im Zusammenhang mit den Nachhaltigkeitsthemen können besser bewertet werden. Um entsprechende Risiken zu minimieren oder zu vermeiden, können Maßnahmen priorisiert und gezielt ergriffen werden (Verknüpfung mit dem Risikomanagement).

4. Die Identifikation der Nachhaltigkeitsthemen erlaubt es, eine bessere Einschätzung hinsichtlich des effektiven Einsatzes von Ressourcen im Rahmen des Nachhaltigkeitsmanagements vorzunehmen, Engagement in betroffenen Bereichen aufzuzeigen oder Nachhaltigkeitsleistungen effektiver zu verbessern.

5. Im Zuge der Wesentlichkeitsanalyse werden Hebel zur Verbesserung von Sachverhalten identifiziert, die direkt, indirekt oder schwer zu beeinflussen sind. Die Aktivierung von Maßnahmen sollte unmittelbar daran gekoppelt sein – proaktiv, prospektiv, programmatisch, produktiv.

Strategische Relevanz

Mit der Wesentlichkeitsanalyse werden die Wertschöpfungskette und das Geschäftsmodell im Zusammenhang mit den Auswirkungen, Chancen und Risiken der Wirtschaftstätigkeiten des Unternehmens beschrieben – ein wichtiger Schritt in Richtung einer ganzheitlichen Nachhaltigkeitsbetrachtung hinsichtlich Resilienz, Zukunftsfähigkeit sowie einer positiven Wirkung (unmittelbar und langfristig). Wesentlich sind in diesem Zusammenhang nicht allein die Identifikation und Dokumentation der Themen: Wesentlich ist das Aufzeigen der Möglichkeiten zur Einflussnahme. Die Unterziele der SDGs sind in diesem Zusammenhang (neben den oben beschriebenen Maßnahmen) ein guter Indikator.

Fazit

Die doppelte Wesentlichkeit hat das Potenzial, den Sustainable Shift der Wirtschaft voranzutreiben. Sie bildet die Eckpfeiler für die Nachhaltigkeitsstrategie und kann das Themenmanagement für die Nachhaltigkeitskommunikation positiv beeinflussen, hinsichtlich der Differenzierungsmerkmale gegenüber dem Wettbewerb. Zudem führt die Durchführung der Wesentlichkeitsanalyse zu einer höheren Kundenzufriedenheit sowie Mitarbeitermotivation. Somit ist die Wesentlichkeitsanalyse auch wesentlich für die Marke und wichtiger Dreh- und Angelpunkt der Nachhaltigkeitsberichterstattung.

Autor/Autorin

Thorsten Greinus

Seit vielen Jahren entwickelt Thorsten Greinus Marken, stets mit dem Ziel, diese inhaltlich und visuell zu positionieren. Seit 2015 unterstützt der Hamburger als Creative Director die Agentur wirDesign in den Bereichen Branding und Reporting sowie bei der Entwicklung von Contentstrategien.