schauen also zuerst auf den Stoffwechsel, was schneller geht und wesentlich güns- tiger ist als die Analyse eines Genoms. Wenn wir im Stoffwechselprofil Anhalts- punkte für eine Erkrankung finden, machen wir parallel einen Abgleich mit der genetischen Information. Auch können wir über diese KI-Metabolom analyse Krankheitsverläufe hervorragend ver- folgen. BIO Deutschland: Erleben Sie Skepsis gegenüber der KI bei der Anwendung solcher Algorithmen? Pro. Dr. Ullrich: Ja, auf Unbehagen gegenüber KI treffe ich immer wieder. Hier würde ich mir mehr Offenheit wünschen. Bei meiner langjährigen Tätigkeit in China habe ich eine ganz andere Mentalität kennen gelernt: Dort besteht eher der Wille zu sehen, welche Vorteile eine Technologie bringen kann. Hier in Deutschland muss man erst das Potenzial darlegen und vertrauensbildende Maßnahmen ergrei- fen. Besonders die KI muss nachhaltiger entmystifiziert werden. Kann man den Nutzen klar identifizieren und die Proble- me, die durch den KI-Einsatz gelöst werden sollen, gut darstellen, dann erreicht man schnell eine gute Zusammen- arbeit mit den Endnutzern. Das Einbezie- hen der Endnutzer ist unabdingbar – für jede Form der Technologieeinführung. BIO Deutschland: In Deutschland ist zwar mittlerweile die Nutzung von Patienten- daten für Forschungszwecke möglich, aber nicht für die industrielle Forschung. Sehen Sie hier Probleme? Prof. Dr. Ullrich: Meines Erachtens ist die relevante Frage nicht, ob die Industrie oder die Wissenschaft an den Daten forscht, sondern wie die Daten geschützt sind. Wir reden hier von höchst sensiblen Unsere Patienten sind in der Regel sehr kooperativ und bereit, ihre Daten zu teilen, und auch untereinander gut orga- nisiert und verknüpft. Daten, deren Schutz höchste Priorität hat. CENTOGENEs Maßnahmen genügen höchsten Ansprüchen, unsere IT-Prozesse sind ISO-zertifiziert. Wir selbst arbeiten ja an seltenen Erkrankungen. Unsere Patien- ten sind in der Regel sehr kooperativ und bereit, ihre Daten zu teilen, und auch untereinander gut organisiert und ver- knüpft. Familien, in denen seltene Krank- heiten aufkommen, fühlen sich als Teil einer Gemeinschaft und haben den Wunsch, dieser Gruppe von Menschen, der man angehört, zu helfen. Dies erklärt sicherlich die Bereitschaft, Daten der Forschung zur Verfügung zu stellen. Auch arbeiten wir international sehr gut mit Ärzten zusammen. Natürlich zählt für uns aber auch jeder Datenpunkt, gerade weil wir an zum Teil sogar sehr seltenen Krank- heiten arbeiten. Ich sehe die Ausgrenzung der Industrie bei der Datennutzung für Forschungszwecke daher kritisch. Es wäre sehr nützlich, Zugriff auf diese Daten zu haben. Dies könnte die Gesundheits- forschung beschleunigen und so Diagnose und Therapie schneller zu Patienten brin- gen. Letztendlich ist das Ziel, neue Erkenntnisse zu gewinnen und den Men- schen mit den Ergebnissen der Forschung zu helfen. BIO Deutschland: Wo sehen Sie noch Ver besserungsbedarf bei der Analyse der Daten? Prof. Dr. Ullrich: Ein Problem ist nach wie vor die Aufbereitung der Daten. Wir koope- rieren zwar, wie gesagt, gut mit Patienten und Ärzten, aber insbesondere die Patien- tendaten, die klinischen Informationen, erreichen uns in allen erdenklichen Formaten: selten digital, oft ausgedruckt auf Papier, manchmal sogar handschrift- lich. Hier ist noch viel zusätzliche Arbeit von Fachexperten nötig. Die Digitali- sierung von Gesundheitsdaten kommt in Deutschland auch nur sehr schleppend voran. Perspektivisch soll die elektro- nische Gesundheitsakte dabei helfen, sobald sie eingeführt ist. Es würde die Forschung wesentlich erleichtern, wenn die Daten digitalisiert werden. Neben der Digitalisierung ist auch die Standar di- sierung der Inhalte noch nicht gut gelöst. Hier sprechen nicht alle in der gleichen Sprache. Wir müssen immer erst mit der Hilfe von sogenannten Ontologien, also international etablierten Vokabularen, die Inhalte standardisieren, um dann damit weiterarbeiten zu können. Also: Digitali- sierung und Standardisierung – das sind zwei wichtige Bereiche, in denen noch viel Nachholbedarf besteht. Es gibt schon einige Player, die KI für Diag- nostik oder Wirkstoff- entwicklung nutzen. Da ist viel Bewegung und es wird auch viel Geld investiert. BIO Deutschland: Wie wichtig ist die KI für die Diagnostik, welchen Stellenwert wird sie zukünftig einnehmen? Prof. Dr. Ullrich: Es gibt schon einige Player, die KI für Diagnostik oder Wirkstoffent- wicklung nutzen. Da ist viel Bewegung und es wird auch viel Geld investiert. Aller- dings ist auch nicht immer KI drin, wenn KI draufsteht. Da muss man dann schon unterscheiden. Nur irgendetwas zusam- menzuführen oder Ähnliches zu finden, ist noch nicht KI. Außerdem ist die Daten- grundlage auch entscheidend. Wir können für unsere Analysen auf eine sehr gute solide Datenbank zurückgreifen, die etwa 3,6 Mrd. Datenpunkte von rund 570.000 Patienten aus über 120 Ländern umfasst. Das ist die Basis für weitere sinnvolle Auswertungen. BIO Deutschland: Oft wird angeführt, dass wir in Deutschland nicht genug KI-Spezi- alisten haben. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Prof. Dr. Ullrich: Ich konnte glücklicherweise schnell ein gutes Team aufbauen. Aber die Mehrheit meiner Mitarbeiter ist tatsäch- lich nicht aus Deutschland. Viele kommen aus Asien. Wir arbeiten sehr international – das ist kein Problem. Für den Wissens- und Forschungsstandort Deutschland ist sicher wichtig, schon in der schulischen Ausbildung die naturwissenschaftlichen Interessen zu fördern. Für unsere Branche ist Interdisziplinarität gefragt; wir brauchen Experten aus zwei Welten, der Informatik und der Biotech- nologie. insbesondere 04-2020 „Medizintechnik & Digital Health“ ls 41