Wo liegen die größten Hürden für Neulinge auf dem Weg zu einer guten ESGBerichterstattung? Die prozessualen Anpassungen sind erheb- lich – insbesondere wenn es darum geht, wiederholbare und vergleichbare soge- nannte Key Performance Indicators (KPIs) zu definieren, zu etablieren, zu dokumen- tieren und zu konsolidieren. Die Prozesse rund um die Finanzkennzahlen haben sich über viele Jahre weiterentwickelt, Gleiches gilt es nun, für das ESG-Reporting zu errei- chen. Auf das Reporting spezialisierte Publishingsysteme können da unterstüt- zend wirken. Welchen Vorlauf benötigen Unterneh- men, um ESGfit zu werden, und wie ist das Vorgehen normalerweise? In wenigen Monaten ist das Fitnesspro- gramm nicht zu realisieren, es ist eher ein Marathon als ein Sprint. Ein erster Schritt kann darin bestehen, das bereits im Unternehmen vorhandene, meist reichhal- tige Datenmaterial zu sammeln und zu strukturieren. Startpunkt könnten Infor- mationen zu ökologischen Themen wie auch Informationen aus der Personal- abteilung für soziale Themen darstellen. Ebenso überlegenswert ist die Schaffung einer Stelle für Nachhaltigkeitsmanage- ment. Der Aufbau des ESG-Reportings kann dann als Katalysator dienen, um die Themen aufzubereiten und sichtbar zu machen. Ist ESGBerichterstattung notwendiger- weise Chefsache oder existieren Alter- nativen? Gerade in mittelständischen Unternehmen müssen schließlich vor allem die Geschäftsführer ihre Ressourcen stark priorisieren. Nach dem politischen Willen des euro- päischen Gesetzgebers soll sich die Befas- sung mit Nachhaltigkeitsfragen bewusst In wenigen Monaten ist das ESG-Fitnessprogramm nicht zu realisieren, es ist eher ein Marathon als ein Sprint. ESG-Reporting ist Chefsache. in der nicht formalen Erfüllung der Berichtspflichten erschöpfen, sondern in der Reflexion auf höchster Leitungsebene. Dies soll Unternehmen veranlassen, darüber nachzudenken, wie Nachhaltig- keit über die formale Berichtspflicht hinaus materiell in die strategische und wirtschaftliche Ausrichtung des Unter- nehmens eingewoben werden kann. Wesentliche Instrumente für diesen poli- tisch gewollten Transformationsprozess sind weiterhin der über die Publizitäts- pflicht erzeugte Druck der (Kapitalmarkt-) Öffentlichkeit und der hieraus folgende Rechtfertigungsdruck für nicht-erwar- tungskonformes Verhalten. Somit erhält die CSRD eine ganzheit- liche Bedeutung für Unternehmen – denn es geht letztlich um eine Nachhaltigkeits- transformation, die alle Bereiche der Geschäftsführung umfasst: Produktangebot, Geschäftspartnerbeziehungen, Investitions- kriterien, Konzern-, Führungs-, Risiko- management- und Informationsstrukturen, Finanzierung und Führungskräftevergütung. Also wird es ohne Chefetage nicht gehen. Ja, ESG-Reporting ist Chefsache. Allerdings in dem Sinne, dass dort die Sinngebung und der Umsetzungswille ausgesprochen werden – die Umsetzung in der Organisation sowie die Realisation der Berichte können und sollen in den Teams stattfinden und damit eine breite Abstützung in der Orga- nisation erfahren. ESG-Reporting ist damit ein bedeutsamer Treiber der Sustainability Transformation. Welche Branchen sind in Sachen ESG besonders weit vorne? Wo besteht Nachholbedarf? Historisch investieren Branchen wie die Chemieindustrie oder die Energiewirtschaft seit vielen Jahren im Bereich der Ökolo- gie. Vielerlei Branchen und Unternehmen orientieren sich an den Nachhaltigkeits- zielen der Vereinten Nationen (UN SDG). Die Finanzindustrie wird schon länger in Being Public puncto ESG reguliert, doch eine breit- flächige bewusste Orientierung an syste- matisch aufbereiteten Daten entlang der ESG-Logik ist – und das kann man unserer Meinung nach durchaus so sagen –eine Erscheinung der 2020er-Jahre. Mittlerweile können sich Unternehmen an unzähligen ESG-Rankings und -Ratings orientieren – oder auch nicht. Was empfehlen Sie? In der Tat dienen ESG-Ratings bei Anlegern oft als nützliche Informationsquelle und werden als eine Art „Gütesiegel“ wahr- genommen. Ähnlich wie bei der Kredit- würdigkeit oder einem Anleiherating zeigen die für die Ratings bzw. Rankings beigezogenen Scores die Fähigkeit eines Unternehmens, seinen ESG-Verpflichtun- gen nachzukommen, sowie seine Leistung und sein Risiko an. Die von Drittanbietern vergebenen ESG-Scores werden auf Basis einer Reihe von ESG-Metriken berechnet und jede dieser Agenturen verwendet eine andere Reihe von Bewertungskriterien. Zu nennen sind MSCI, Dow Jones, ISS ESG, Bloomberg, V.E: Moody’s, Sustainalytics, CDP usw. Was auch immer man von den einzelnen Ratings und Rankings hält, eines ist sicher: Unter dem Strich wird erhebliches Kapital durch ESG-Ratings beeinflusst. Wagen Sie eine Prognose: Welche ESG Kriterien werden sich als Standards durchsetzen, welche eher nicht und warum? Ich denke, dass wir das ESG-Reporting nicht auf einzelne Kriterien reduzieren können. Es geht um das große Ganze. Wir Unternehmen sind gut beraten, die Verschärfung der rechtlichen Berichts- anforderungen durch die CSRD nicht als „weiches Trendthema“ oder weitere büro- kratische Checklistenanforderung zu unterschätzen. Wer frühzeitig erkennt, wie weitreichend die CSRD eine Sustaina- bility Transformation für die gesamte Wertschöpfungskette und für die Unter- nehmenskultur ganzheitlich fordert, ist in der Lage, sich als First Mover eines nach- haltigen Geschäftsmodells global am Markt zu positionieren. Herr Neidhart, vielen Dank für das Interview. ■ Das Interview führte Simone Boehringer. 02-2022 3