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Berlin ist ein Hotspot der deutschen Biotechszene. Start-ups treffen auf gewachsene Unternehmen. Immer mehr Investoren und Risikokapital zieht es in die Stadt. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens sorgt für zusätzlichen Schub.

Plattform Life Sciences: Frau Dr. Quensel, wie definieren Sie eigentlich „smarte Medizin“? Welche Trends sehen Sie?

Dr. Quensel: Smarte Medizin bedeutet vor ­allem, dichter am Patienten zu sein. Auch wenn Begriffe wie „personalisiert“ oder ­„individualisiert“ schon länger genutzt werden, sind wir im Bereich der digitalisierten Medizin noch relativ am Anfang. Manche Begriffe werden in die Welt gesetzt, bevor wir wirklich auf dem Weg sind. Natürlich ­haben wir im Bereich der Technologie­entwicklung und Datenauswertung in den vergangenen Jahren immense Fortschritte gesehen: Wir können einzelne Zellen auf DNA- und RNA-Level sequenzieren oder das Proteinlevel und den metabolischen Zustand qualitativ und quantitativ bestimmen sowie die entsprechenden Daten anschließend mit Algorithmen auswerten. Ähnlich verhält es sich in der Bildauswertung. All diese Dinge muss man zusammenbringen, vor allem mit den Phänotypen, also den Krankheitsbildern, um eine zielgerichtete Behandlung und ­Therapie zu entwickeln. Auch die Gentherapie gewinnt mit den neuen Technologien eine ganz neue Bedeutung. Man geht neue Wege, weg von den klassischen Vektoren. Smarte Medizin umfasst nicht nur die digitale, sondern auch die biologische Welt.

Am Campus Berlin-Buch sind Sie mit Start-up-Themen sehr vertraut. Wie entwickelt sich aus Ihrer Sicht das Gründungsgeschehen im Bereich der smarten Medizin?

Dr. Quensel: T-knife mit seiner 110-Mio.-USD-Finanzierung aus dem vergangenen Jahr ist natürlich ein hervorragendes Beispiel für die Innovationskraft unseres Standorts. Aktuell sind weitere Ausgründungen aus dem ­benachbarten Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC Berlin) in der Pipeline, beispielsweise ein Projekt im ­Bereich Muskelstammzellen von Dr. med. Verena Schöwel-Wolf aus der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. med. Simone Spuler, sowie ­weitere Projekte aus der Stammzellforschung. Weiterhin sehen wir eine zunehmende Spezifizierung im Diagnostikbereich.

Herr Dr. Bindseil, welche Rolle spielt die smarte Medizin auf der nächsten BIONNALE?

Dr. Bindseil: In die smarte Medizin spielt der digitale Aspekt natürlich sehr hinein. Hier setzen wir auf der BIONNALE einen Schwerpunkt in der Zusammenarbeit mit der pharma­zeutischen Industrie. Es präsentieren sich kleine und mittelgroße Unternehmen im Rahmen der Veranstaltung, aber auch die großen Pharmakonzerne. „Precision Medicine“ ist ein weiterer Schwerpunkt, speziell mRNA und Immuntherapien. Erstmalig kommt das große Thema Nachhaltigkeit.

Dr.Quensel: Auf der BIONNALE trifft sich die gesamte Biotechbranche aus Berlin-Brandenburg. Zusätzlich wollen wir Ausgründungen an das Event heranbringen und auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, für die das Thema Ausgründung aktuell noch keine Rolle spielt.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen gewachsenen Unternehmen und jungen Akteuren im Bereich der smarten Medizin?

Dr. Bindseil: Dass kleine und große Unternehmen, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenarbeiten müssen und frühzeitig Medizin in die Lebenswissenschaften einbezogen werden muss, all das hat sich inzwischen durchgesetzt. Gerade in einem regulierten Markt muss man häufig von hinten aus ­denken: Wer verschreibt und bezahlt ein Produkt? Wer setzt es tatsächlich ein? Wer kann es produzieren? Wir sehen viele Teams, die sich entlang der gesamten Wertschöpfungskette finden und zusammenkommen. Auch Big Pharma sucht vermehrt die Kooperation mit Start-ups, ebenso wie größere IT-getriebene Firmen. Auf der ­BIONNALE haben wir auch entsprechende Partnering-Formate. Zudem will Big Pharma immer häufiger auch frühe Technologien ­sehen. Die Zeiten sind vorbei, als man eine Phase II oder Phase III abgewartet hat, um dann einen Produktkandidaten einzulizenzieren oder aufzukaufen. Ein gutes Beispiel ist das Projekt „Virchow 2.0 – Innovationscluster für zellbasierte Medizin in Berlin-Brandenburg“. Ziel des Projekts ist es, die Kluft zwischen Grundlagenforschung und klinischen Anwendungen zu überbrücken und zellbasierte Medizin in die Klinik zu bringen. „Virchow 2.0“ ist einziger Berliner Finalist der zweiten Wettbewerbsrunde der Clusters4Future-Initiative des BMBF und geht aktuell in die Konzeptionsphase.

Wie muss ein Inkubator aufgestellt sein, um Ausgründungen im Bereich der Wirk­stoffentwicklung oder Gen- und Zellthera­pien eine starke Unterstützung zu sein?

Dr. Quensel: „Inkubator“ ist ein dehnbarer Begriff. Als Landesunternehmen sind wir vollständig selbstfinanziert. Auf Fördermittel können wir für größere Projekte zurückgreifen, etwa zur Errichtung unseres neuen Gründerzentrums BerlinBioCube. Anders sieht es bei den zu vermietenden Einheiten für Start-ups aus: Die Laborflächen, die wir anbieten, sind komplett leer, es sei denn, ­Geräte und anderes Inventar können vom Vormieter übernommen werden. Das bedeutet, dass die Projekte in der Wissenschaft so weit gegründet sein müssen, dass sie tatsächlich schon als Firma existieren und eine gewisse Grundfinanzierung mitbringen. In der Regel kennen wir natürlich die Start-up-Projekte und stehen mit den entsprechenden Technologietransferstellen in Verbindung. Wir versuchen beispielsweise, mittels unserer Netzwerke auch frühzeitig Kontakte zu Investoren herzustellen. Über die Akademie des Gläsernen Labors haben wir Programme aufgesetzt, um Entrepreneurship zu fördern. Wenn ein Start-up einmal größere Geräte benötigt, sind wir auf dem Campus mit unseren über 50 Biotechfirmen und den Forschungseinrichtungen ausgezeichnet vernetzt und können hier die entsprechenden Kontakte herstellen.

Hat die Pandemie zu verstärkten ­Investments in die risikobehaftete ­Biotechnologie geführt?

Dr. Bindseil: Ja – Investoren schauen verstärkt auf die Biotechnologie. Gleichzeitig erleben wir, dass auch neue Investoren aus anderen Branchen sich vermehrt für Life Sciences interessieren. Im vergangenen Jahr wurden in Berlin 10 Mrd. von in Deutschland insgesamt 15 Mrd. EUR Venture Capital investiert. Davon flossen aber nur rund 1 Mrd. EUR in die Lebenswissenschaften, wobei Berlin auch hier das größte Stück vom Kuchen abgreifen konnte. Einerseits sind das beeindruckende Zahlen, ­andererseits ist der Anteil der Life Sciences immer noch vergleichsweise klein. Trotzdem glauben Investoren wieder mehr an Biotechnologie und Pharmaentwicklung. Aber da muss mehr gehen! Natürlich sind wir glücklich über eine BioNTech-Erfolgsstory. In der digitalen Gesundheit kommen parallel neue Investoren hinzu. Gerade internationale ­Investoren wissen mittlerweile um das ­Potenzial der Lebenswissenschaften in Berlin. Nehmen wir die Finanzierungsrunden von T-knife, Ada Health oder caresyntax, einem Spezialisten für OP-Software. Persönlich ­erwarte ich in Zukunft auch stärkere Engagements von Corporate-Investoren.

Welche Hürden sehen Sie auf dem weiteren Siegeszug der smarten Medizin?

Dr. Quensel: Auf jeden Fall sehe ich Hürden im Bereich der Zulassung und Refinanzierung. Zahlreiche Firmen werden mit ihrer Technologie zunächst ins Ausland gehen. An unserem Standort gibt es z.B. das Unternehmen ASC Oncology, welches sich auf ­individualisierte Krebsdiagnostik spezialisiert hat. Dies wird aber noch nicht über das deutsche Gesundheitssystem refinanziert. Die Patienten zahlen heute diese Diagnostik selbst, denn der Outcome belegt, welche Art von Therapie eingesetzt werden kann, wenn diese in der 3D-Zellkultur anschlägt. Zukünftig ist größte Hürde für solche Technologien wahrscheinlich die Einführung der neuen EU-Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR). Diese stellt einen enormen personellen und finanziellen Aufwand für die Etablierung von Qualitätsmanagementstrukturen und deren Akkreditierung dar, um neue Medizinprodukte überhaupt auf den Markt bringen zu können. Gerade für kleine Firmen ist das nur schwer zu stemmen. Beim Thema Zelltherapie wird es spannend werden, zu beobachten, wie man Entwicklungen belohnen kann, damit noch mehr Investoren in dieses Thema einsteigen. Ein Problem während der Corona­pandemie war aber auch, dass Zulassungen, sofern sie sich nicht explizit mit COVID-19 ­beschäftigen, häufig auf die lange Bank ­geschoben wurden. Es gibt viele Krankheiten, die wesentlich tödlicher sind als Corona.

Dr. Bindseil: Es existiert eine Vielzahl von Hürden, gerade in Sachen Regulierung. Doch gerade am Beispiel Coronaimpfstoffentwicklung lässt sich beobachten: Wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen und der Nutzen klar vorhanden ist, kann eine Entwicklung sehr schnell vorangetrieben werden. Neben der Erstattung geht es auch um das Thema Datenschutz. Nehmen wir die Beispiele „elektronische Patientenakte“ oder „elektronisches Rezept“ – hier liegen die Bremsklötze nicht nur bei der Politik, sondern auch bei den Lobbygruppen von Pharma und Medizinern. Auch hier müssen wir gemeinsam zu dem Punkt kommen: Das wollen wir! „Real World Evidence Data“ ist das Schlagwort. Und natürlich: Lebenswissenschaften kosten Geld. Es müssen weiterhin Anreize geschaffen werden, in zukunftsweisende Technologien zu investieren, und zwar nicht nur bei Milliardären, sondern auch bei breiteren Bevölkerungsschichten. Entsprechende Erträge dürfen nicht steuerlich belastet werden.

Frau Dr. Quensel, Herr Dr. Bindseil, ich bedanke mich für das interessante Gespräch!


Zu den Personen

Dr. Christina Quensel ist Geschäftsführerin der Campus Berlin-Buch GmbH – Center for Biotechs.

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Dr. Kai Uwe Bindseil ist Head of Division Life Sciences/Healthcare Industry bei der Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH.

Das Interview erscheint in der Ausgabe „Smarte Medizin“ der Plattform Life Sciences 1/22.

Autor/Autorin

Holger Garbs ist seit 2008 als Redakteur für die GoingPublic Media AG tätig. Er schreibt für die Plattform Life Sciences und die Unternehmeredition.