Der Referent hängt wie eine dicke, Fleisch gewordene Stoffpuppe über dem Rednerpult, das er mit seiner Körperfülle in Gänze bedeckt, und hält den zuhörenden Anlegern ihr Verhalten vor: „Darf ich bitte einmal um Handzeichen bitten, wer von Ihnen derzeit Aktien besitzt?“ Es melden sich sehr viele. Na, bitte, für ihn ist das wieder ein Beweis dafür, dass die Anleger ihre Verluste nicht begrenzen.

Das ist überhaupt das durchgängige Leitmotiv (oder soll ich sagen Leidmotiv?), das der Besucher der Messe „Invest“ beim Rundgang durch die Halle mitbekommt, bei dem er an jedem Stand die Reden eines neuen Wanderpredigers erschallen hört: „Die Verluste begrenzen und die Gewinne laufen lassen.“ So einfach kann die Börse sein. Ich frage mich allerdings sofort, warum diese Referentenschar sich an diesem Samstag bei herrlichstem Wetter in die steifen Anzüge quält und den Tag in abgeschotteten Hallen verbringen, wo ich doch gleich nach meinem Kurzbesuch so schön in die Natur abdüsen kann. Ob das vielleicht doch alles nicht so einfach ist?

Ich jedenfalls fühle mich von der Fleischkrake auf dem Pult nicht angesprochen, schließlich habe ich bewusst in den Crash hinein gekauft, und lasse den Referenten ohne mich auf dem Stehpult liegend weiter reden. Doch ich werde den Gedanken nicht los: Ist so eine Behauptung eigentlich möglich, dass „die“ Anleger stets systematisch falsch liegen? Wenn man damit „alle“ Anleger meint, ist es sogar logisch unmöglich, denn wer hätte dann die Gegenposition dazu bekleidet? Aber auch wenn man nur „die Kleinanleger“ meint, scheint mir das schon problematisch. Denn wenn diese Gruppe wirklich systematisch falsch liegt, muss eine andere Gruppe systematisch richtig liegen. Doch wer soll das sein? Auf diesem Rummelplatz der Eitelkeiten finde ich sie ganz sicher nicht, das ist mir schnell klar.

Dann komme ich zu einem Charttechniker oder Wellenmensch, ganz wie man das will. Er hat so viele Zuhörer angezogen, dass der Gang vor dem Stand verstopft ist. Mit der unangreifbaren Logik eines Kirchenfürsten zeigt er auf, warum der Dax in der jetzigen Bewegung noch bis auf 5.000 Punkte steigen muss. Mit angespannter Erwartung lauschen ihm die Zuhörer wie einem Erlöser.

„Aber täuschen Sie sich nicht“, fügt er nach einer kurzen Atempause an, „anschließend wird der Dax wieder auf unter 3.000 Punkte sinken. Wir erwarten mit großer Sicherheit Dax-Kurse im 2.000er Bereich.“ Mit fassungslosem Entsetzen nimmt das Publikum die unumgehbare Gottesbotschaft entgegen. Erst als ich einmal heftig lache, wendet sich der Zorn kurzzeitig auf mich, so, als wäre ich ein Ungläubiger.

Mir ist es auch nach 30 Jahren an der Börse immer noch schleierhaft, warum prinzipiell eigentlich durchaus intelligente Kerle wie dieser Referent so einen Blödsinn glauben können. Als hätte es die Aufklärung niemals gegeben und wir Menschen wären immer noch im mittelalterlichen Glauben gefangen, dass im Aufschwung bereits der Keim des Abschwunges enthalten ist. Ich muss dabei immer denken, wie es wohl wäre, zu einem Arzt zu gehen, der einem mitteilt, dass jetzt zwar alles in Ordnung sei und es auch noch eine Zeit so weiter gehen würde, anschließend jedoch der Krebs ausbrechen wird.

Aber auch das hat der alte Kostolany ja bereits unschlagbar klar auf den Punkt gebracht: Man kann glauben, hat er immer gesagt, dass die Aktien steigen, oder auch glauben, dass sie fallen. Aber dass sie erst steigen und dann fallen, oder erst fallen und dann steigen, dass ist totaler Unsinn und Scharlatanerie. Als ich wenige Minuten später aus dem Messegebäude trete, riecht es wunderbar nach Kuhmist und Landluft. Auch hierzu fällt mir ein passender Kostolany-Spruch ein. Und auch der trifft die Dinge wieder ziemlich exakt. Man braucht das Neue also gar nicht für die alten Weisheiten.

Bernd Niquet

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