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Der Bundestag hat in einer Sondersitzung die Regelungen für virtuelle Hauptversammlungen, die wegen der Corona-Pandemie beschlossen wurden, bis Ende August 2022 verlängert. Ziel ist es laut Justizministerin Christine Lambrecht, den Unternehmen Planungssicherheit zu ermöglichen und Versammlungen auf eine sichere Rechtsgrundlage zu stellen.

Wir haben uns bei den Experten aus dem Bereich der Hauptversammlung umgehört, wie sie die erneute Verlängerung des Gesetzes bewerten und welche Erwartungen sie an eine dauerhafte Gesetzgebung haben, die von einer neuen Bundesregierung beschlossen werden muss.

 

 

Bernhard Orlik, Link Market Services

„Insbesondere für die Gesellschaften, die ihre Hauptversammlung (HV) Anfang 2022 machen müssen, bedeutet die Verabschiedung der Verlängerung der Möglichkeit der Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung bis 31. August 2022 eine Planungssicherheit, die es unbedingt braucht.

Angesicht schleppender Impfquoten und wiederum steigender Inzidenzen kann zum derzeitigen Zeitpunkt keiner guten Gewissens für den Winter eine Präsenzveranstaltung vorsehen. Und die Entscheidung, wie die HV 2022 im Februar stattfinden soll, fällt im Endeffekt jetzt, denn Location und Technik müssen mit einem Vorlauf von rund neun Monaten für Großveranstaltungen gebucht werden.

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Eine Reihe von Marktteilnehmern bemängeln, dass die virtuelle HV in der jetzigen Form Aktionärsrechte deutlich einschränkt. Diese Bedenken teilt u.a. auch Prof. Dr. Hirte, der stellv. Vorsitzende des Rechtsausschusses des Dt. Bundestages. Aus dem Grund hat der Bundestag der Verlängerung wohl auch nur mit „Bauchgrummeln“ zugestimmt und dies in der Begründung deutlich zum Ausdruck gebracht: „Auch wenn die Erleichterungen somit noch bis einschließlich 31. August 2022 zur Verfügung stehen, sollte von diesem Instrument im Einzelfall nur dann Gebrauch gemacht werden, wenn dies unter Berücksichtigung des konkreten Pandemiegeschehens und im Hinblick auf die Teilnehmerzahl der jeweiligen Versammlung erforderlich erscheint.“

Vorstand und Aufsichtsrat müssen daher in ihrem Beschluss zur Abhaltung einer virtuellen HV sehr deutlich herausarbeiten, dass eine Präsenzveranstaltung nicht vertretbar wäre.

Eine nochmalige Verlängerung der gesetzlichen Regelungen zur virtuellen HV über den 31. August 2022 hinaus erscheint mir – natürlich in Abhängigkeit des Pandemiegeschehens – eher unwahrscheinlich.

Vielmehr wird dann eine grundsätzliche „Renovierung“ der deutschen Hauptversammlung anstehen. Die verschiedenen Interessengruppen haben hierzu bereits eine Reihe von Vorschlägen und Konzepten vorgelegt. Es wird spannend sein, welchen Weg hier die neue Bundesregierung einschlagen wird und ich würde mir wünschen, dass auch die HV-Dienstleister als Praktiker in diesen Findungsprozess eingebunden werden.“

 

Dr. Thomas Zwissler, ZIRNGIBL

„Die COVID-19 Pandemie hat Defizite in Staat und Gesellschaft offengelegt. Gleichzeitig hat die Pandemie als Katalysator für Neues gewirkt. Das gilt auch für die Praxis der Hauptversammlung. Insoweit ist es nur natürlich, wenn die Diskussion über die Zukunft der Hauptversammlung zuletzt neuen Schub erhalten hat. Die Frage ist, unter welchen Vorzeichen diese Diskussion geführt wird:

In der Pandemie haben Regierungen und Parlamente kurzfristig mit Maßnahmen der Krisengesetzgebung reagiert. Oft waren diese Maßnahmen aufgrund der Kürze der für die Vorbereitung zur Verfügung stehenden Zeit weniger durchdacht und ausgereift, als dies bei einem regulären Gesetzgebungsprozess der Fall gewesen wäre. Krisengesetzgebung muss aber nicht per se schlecht oder ungeeignet sein, um auch nach der Krise Bestand zu haben.

Wer über eine dauerhafte Übernahme der COVID-19-Gesetzgebung zum Recht der Hauptversammlung in das Aktiengesetz nachdenkt, der muss bedenken, dass hierdurch grundlegende Fragen des Grundrechtsschutzes im Bereich der aktienrechtlichen Mitgliedschaft aufgeworfen würden. Jahrelange Rechtsunsicherheit wäre die Folge, denn am Ende könnte nur das Bundesverfassungsgericht letztverbindlich entscheiden. Die Reformdiskussion sollte daher von der COVID-19-Gesetzgebung entkoppelt und stattdessen danach gefragt werden, welche technischen Lösungen, die sich in der Krise bewährt haben, auch künftig zum Einsatz kommen sollten und wo das geltende Aktiengesetz dem wirklich entgegensteht.

Die jüngste Verlängerung der COVID-19-Gesetzgebung zum Recht der Hauptversammlung sollte nicht als Ausdruck eines besonderen Reformwillens des Gesetzgebers missverstanden werden. Der Gesetzgeber hat zunächst einmal nur der Tatsache Rechnung getragen, dass die pandemische Lage in Deutschland noch nicht überwunden ist. Ob es tatsächlich gelingen kann, die Reformdiskussion so schnell voranzutreiben, dass dauerhafte gesetzgeberische Maßnahmen nahtlos mit dem Auslaufen der (erneut verlängerten) Krisengesetzgebung einhergeht, erscheint fraglich. Die Praxis kann und sollte sich darauf nicht verlassen.“

 

 

 

 

 

Christof Schwab, Computershare Deutschland

„Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sondersitzung am 07. September die erneute Verlängerung der COVID-19-Notfallgesetzgebung beschlossen. Wir begrüßen den Zeitpunkt der Entscheidung, ein Beschluss nach der Bundestagswahl wäre für die Emittenten mit abweichendem Geschäftsjahr, die ihre Hauptversammlung bereits im Januar oder Februar abhalten, zu spät gekommen.

Was bedeutet dieser Beschluss in der Praxis? Werden die Aktionäre in den ersten acht Monaten 2022 ausschließlich zu virtuellen Hauptversammlungen eingeladen? Wird es zu einer Stärkung der Aktionärsrechte kommen?

Der Gesetzgeber weist darauf hin, dass nur dann zu virtuellen Hauptversammlungen eingeladen werden sollte, wenn das konkrete Pandemiegeschehen dies im Hinblick auf die Teilnehmerzahl der jeweiligen Versammlung erforderlich mache. Hygiene- und Zugangskonzepte hängen stark von der Teilnehmerzahl ab. Viele Emittenten gehen bei der Anmietung der HV-Veranstaltungsorte von Teilnehmerzahlen wie vor der Corona-Pandemie aus.

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Da zum Zeitpunkt der Anmietung keine genaue Prognose der Inzidenzen möglich ist, planen viele Gesellschaften konservativ. Anzumietende Hallen für große Aktionärszahlen mit Abstandsregelung gibt es nur sehr wenige. Die Zugangskontrolle ist eine zusätzliche Herausforderung. Unter der Annahme, dass eine 2G-Beschränkung schwer durchsetzbar ist, muss die Eingangskontrolle neben Impfausweisen auch Tests erfassen und solche anbieten. Von daher erwarten wir, dass große Hauptversammlungen überwiegend virtuell abgehalten werden.

Aber auch weniger teilnehmerstarke Versammlungen haben eine Einzelfallentscheidung zu treffen, ob die für sie in Frage kommenden Räumlichkeiten unter Hygienekonzepten noch bespielbar sind. Hieraus ergeben sich ebenfalls teilnehmerbedingte Rahmenbedingungen, die eine Präsenz-HV unter Corona-Bedingungen in der Durchführung erschweren könnten.

Einige Emittenten haben letztes Jahr bei virtuellen Hauptversammlungen bereits Nachfragen und/oder Onlinebeiträge zugelassen, um nur zwei Beispiele nennen. Diese Gesellschaften haben sicher eine Vorbildwirkung. Ein Weniger an Aktionärsrechten ist für 2022 nur schwer vorstellbar. Die Erwartungshaltung der Investoren, deren Rechte dann im dritten Jahr nachhaltig eingeschränkt bleiben, wird noch mehr als 2021 Interaktivität bedeuten. Dies könnte dazu führen, dass Nachfragen zum Standard werden.

Wir begrüßen, wie auch unsere Kunden, die zeitnahe Gesetzesverlängerung und die damit verbundene Planungssicherheit.“