Verstaubte Akten oder ­Digitalisierungsboom?

Wo steht die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland? Eine Einordnung aus Corporate-Finance-Sicht

E-Rezept, Telemedizin etc. könnten längst Standard sein: Wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus 2018 – bei der Deutschland den vorletzten Platz belegt – zeigt, ist dies bei unseren Nachbarländern längst der Fall. Belgien führte bereits 2013 das E-Rezept ein und erlaubt über MyCareNet einen automatischen Austausch zwischen Gesundheitsversorgern und Krankenkassen. Österreich bietet seit 2016 die elektronische Patientenakte an. Vergleichbare Konzepte und vieles mehr sind bereits bei vielen unserer europäischen Nachbarn wiederzufinden. Von Thomas Klack

In Deutschland indes klingt dies in der ­öffentlichen Wahrnehmung angesichts veralteter physischer Patientenakten und eines Gesundheitssystems, das oft mehrere Monate braucht, um eine Behandlungskette abzuschließen, fast noch wie Science­Fiction. Ungeachtet dessen befindet sich die Gesundheitsbranche jedoch längst in einem nachhaltigen Wandel.

Was meint Digitalisierung?

Digitalisierung im Gesundheitswesen findet sowohl im nicht-medizinischen als auch im medizinischen Bereich statt, wobei die Grenzen fließend verlaufen. Im nicht-medizinischen Bereich unterstützt Digitalisierung die administrative Infrastruktur im Sinne von Informationsverarbeitung, -speicherung und -transfer durch Cloud und Platform ­Solutions u.a. für Patientenakten, Rezepte, Terminkoordination, Abrechnungssysteme. Digitalisierung im medizinischen Sinne ­befasst sich sowohl mit dem F&E-Prozess von Behandlungsmethoden, Wirkstoffen und (digitalen) Produkten in der Life-Sciences-/Medtech-/Pharmaindustrie als auch mit der Verbesserung der medizinischen Versorgung (u.a. Telemedizin oder Big-Data-Analyse in der medizinischen Diagnostik). Im Vordergrund stehen dabei der innovative Einsatz und die Verknüpfung neuer Technologien wie 3D-Druck, Internet of Things (IoT), Virtual Reality sowie Artificial Intelligence & Analytics. Als prominenter Vorreiter zeigt sich hier ausgerechnet die als rückständig verschriene NHS in Großbritannien, die mithilfe von Google und AI die Auswertung großer Datensätze von Behandlungserfolgen bzw. Krankheitsverläufen testet, um Rückschlüsse auf Abläufe und Thera­pien zu erhalten.

Vorteile der Digitalisierung

Vor dem Hintergrund steigender Gesundheitsausgaben in Deutschland bietet die Digitalisierung des Gesundheitswesens enormes Effizienzpotenzial. In einer gemeinsamen Studie von McKinsey und dem Verband Managed Care wird der mögliche Effekt auf bis zu 34,0 Mrd. EUR beziffert, was einem Anteil von 8% des erwarteten Gesamtaufwands im Jahr 2019 entspräche.

Ungeachtet monetärer Effekte findet auch eine Verbesserung der medizinischen Leistung in der Forschung sowie Behandlung von Patienten statt. Neben der Erweiterung des Leistungsspektrums und Personalisierung medizinischer Angebote bietet ­Digitalisierung die Chance zur effizienteren Ausnutzung des Gesundheitssystems entlang der Wertschöpfungs- und Behandlungskette. Inzwischen ist darüber hinaus unstrittig, dass Diagnosen durch den Einsatz von AI bei Auswertung und Über­wachung von Patientendaten umfassender wie auch schneller durchgeführt werden können oder dass telemedizinische Ange­bote die Versorgung im ländlichen Raum verbessern. Viele Unternehmen arbeiten ­bereits an der Zukunftsvision des interagierenden medizinischen Ökosystems, welches Daten, Produktwelten, Dienst- und medizinische Leistungen zum Vorteil der Nutzer verknüpft.

Wo steht Deutschland?

In der Wahrnehmung überwiegt derzeit der Eindruck, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zurückliegt. Hierbei gilt es jedoch, zwischen der medizinischen Behandlung bzw. Verwaltung von Daten sowie der Digitalisierung in Forschung und Entwicklung zu differenzieren.

Vor allem datenschutzrechtliche Bedenken, fehlende politische Initiativen und nationale regulatorische Rahmenbedingungen haben für eine langsame digitale Transformation gesorgt. Beispielhaft steht hierfür die mehrfach verschobene Einführung von E-Rezepten und digitalen Patientenakten.

Infolge dessen haben sich B2C-Angebote im Markt, wie z.B. Onlineapotheken im Vergleich zum klassischen E-Commerce, bislang schleppend entwickelt. Zukünftig werden Verbraucher vermehrt als Treiber des digitalen Wandels sowie der Akzeptanz von Technologien gesehen. Die bereits vorhandene mobile Vernetzung von Smartphones mit dem Internet und die Bereitschaft der Patienten, Daten zu teilen, fördern die Nachfrage nach medizinischen Anwendungen zur Verbesserung von Diagnostik, Therapie und Nachversorgung.

Im B2B-Bereich konzentrieren sich Angebote – getrieben durch Kostendruck – stark auf die Verbesserung von Prozessen, wenngleich Anwender nicht unbedingt digitale Treiber sind. Zusätzlich belasten die durch Digitalisierungsinitiativen bedingten Kosten zunächst die bereits strapazierten Finanzen der Gesundheitsunternehmen.

Demgegenüber zeigt sich die Transformation im Life-Sciences-/Medtech-/Pharmabereich durch ein internationaleres Umfeld sowie einheitlichere Standards und Schnittstellen dynamischer und weiter vorangeschritten. Vor allem die Verwendung von AI und Digital Collaboration treiben Progres­sion in Forschung und Entwicklung.