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Die CEO-Rede zur Hauptversammlung wird moderner – auch wenn man das nur aus großem Abstand erkennt und dazu eine Pandemie nötig war. In einigen Jahren könnte an die Stelle der klassischen Rede sogar etwas gänzlich Neues treten.

Rückblende in das Jahr 1993: Auf dem Messegelände füllt sich ein hallenartiger Raum namens „Kristallsaal“ mit überwiegend älteren Herren. Man trägt Anzug und Krawatte. Im Saal ist Platz für rund 1.000 Gäste, hinter der Bühne, auf der vor einer weißen Leinwand ein Podium mit über 20 Namensschildern aufgebaut ist, steigt die Anspannung. Obwohl seit Jahrzehnten traditionsreiche Routine, bleibt für die Männer und Frauen aus der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit immer ein Rest an Unsicherheit: Wird auch alles gut gehen? Besonders mit der Technik. Gut zwei Dutzend Grafiken sind vorbereitet. Niemand nennt sie damals „Charts“, denn für PowerPoint interessieren sich erst wenige Insider. Stattdessen hat man Dias (!) angefertigt. Gleich zwei Projektoren werden „im Überblendverfahren“ Tabellen, Zahlen und Kurven auf die Leinwand werfen und damit die Rede des Vorstandsvorsitzenden illustrieren.

Diese wiederum dauert gefühlt so lange wie eine Parteitagsrede des kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro, auch wenn es de facto „nur“ gut 45 Minuten sind. Bilder werden nur gelegentlich gezeigt und auch sonst scheint man regelrecht bemüht, jeglichen Eindruck von Unterhaltsamkeit zu vermeiden. Der Chef präsentiert fast ausschließlich Zahlen, erläutert einzelne Positionen der Bilanz und skizziert ausführlich die wirtschaftliche Großwetterlage im Land und in der Welt.

Rhetorik-Ranking spornte die CEOs an

Für Nicht-Betriebswirte und Nicht-Juristen war schon damals klar: Niemand kann das alles wirklich gut finden – jedenfalls nicht unter Aspekten der „kommunikativen Performanz“, einer Kategorie, die Redenschreiberinnen und Redenschreiber vordringlich interessiert. Ebenso klar war: Veränderungen an dieser Inszenierung sind so wahrscheinlich wie eine Reform der katholischen Kirche. Erst aus der Distanz von gut 30 Jahren lässt sich erkennen: „Und sie bewegt sich doch.“

Das gilt besonders für das dramaturgische Herzstück einer Hauptversammlung, die Rede des Vorstandsvorsitzenden  – oder, siehe da: neuerdings auch der Vorstandsvorsitzenden. Die gute Nachricht dabei lautet: Innerhalb dieser Zeitspanne hat der Fortschritt sogar an Fahrt aufgenommen. Anders ausgedrückt: Im nun zurückliegenden Jahrzehnt hat sich die CEO-Rede zur Hauptversammlung mehr verändert als in den drei oder fünf Jahrzehnten davor, und in den zurückliegenden drei Jahren wiederum mehr als im gesamten Jahrzehnt.

Die Pandemie wirkte disruptiv

Auslöser war und ist die Coronapandemie und die von ihr erzwungene digitale Disruption. Mit ihr hat nun auch die Geschichte der Hauptversammlung ihre „Zeitenwende“. Denn klar ist: Die digitale Option ist gekommen, um zu bleiben. Zu reizvoll und verlockend sind die Möglichkeiten, die sich dadurch für die Unternehmen bieten.

Allerdings erschließen sich diese Möglichkeiten ganz offenbar nicht ohne Weiteres – betrachtet man im Jahr drei der Zeitenwende die rhetorischen Leistungen der CEO-Spitzen, scheint sich nur am redaktionellen Schnittmuster der HV-Reden in Summe nahezu nichts geändert zu haben; jedenfalls nicht zum Besseren. Der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) analysiert die Auftritte seit fast zehn Jahren. Und auch in diesem Jahr zieht mein Kollege Patrick Maloney, der das Analyseprojekt des VRdS koordiniert, ein eher enttäuschendes Zwischenfazit:

„Auch wenn es dieses Jahr erneut einige rhetorische Lichtblicke gibt, ist bei den meisten Hauptversammlungsreden Langeweile angesagt: wenig engagierte Redner, ein Manuskript mit vorhersehbaren Inhalten. Rhetorische Finessen – Fehlanzeige. The same procedure as every year.

So weit die triste Wirklichkeit. Die „Zeitenwende“, könnte man meinen, findet ohne die Redenschreiberinnen und Redenschreiber statt.

Lob für eine attraktive CEO-Rede: Mercedes-Benz Ola Källenius spricht erstmal über den Weltklimarat, bevor er über das Auto-Geschäft des Konzerns referiert.

Ein zweiter Blick auf die rhetorischen Leistungen der Saison 2023 aber offenbart: Es ist etwas in Bewegung gekommen. Wie schon im Jahr zuvor macht z.B. Siemens-Chef Busch einzelne Mitarbeiter des Unternehmens zu Helden eines anschaulichen Storytellings – und präsentiert den Riesenkonzern auf diese Weise nahbar und menschlich. Bei Mercedes spricht Ola Källenius über den Weltklimarat, bevor er über Autos spricht – und unterstreicht damit den gesellschaftlichen Anspruch seines Unternehmens. Für Adidas kommt der neue norwegische CEO Bjørn Gulden im roten Trainingsanzug auf die Bühne und spricht anhand von Stichworten frei. Und auch bei Covestro pflegt der Vorstandsvorsitzende einen erfrischenden Sprechstil nah am alltäglichen Sprachgebrauch, wenn er vom „Raubbau“ der Menschen an der Natur spricht oder „Ecken und Kanten“ klar benennt. So werden Unternehmen nahbarer, interessanter, lebendiger.

Digitales Format erhöht die Vielfalt

Angestoßen werden diese Veränderungen u.a. durch die neuen Inszenierungsmöglichkeiten des digitalen Formats. Bei Weitem nicht alle nutzen sie und die wenigsten im vollen Umfang des Machbaren. Aber: Je entschlossener die Kommunikationsverantwortlichen die Möglichkeiten moderner TV-Studio-Technik nutzen, umso weniger agieren CEOs als oberste Buchhalter des Unternehmens. Stattdessen können sie vor bewegten oder unbewegten Bildern wie TV-Reporter anschaulich aus dem Alltag des Unternehmens, von seinen Produkten und Erfolgen berichten.

Perspektivisch könnte so eine neue Ära von Hauptversammlungsreden beginnen, die nur noch von Ferne an die Auftritte vergangener Jahre erinnern. Möglicherweise sehen wir in einigen Jahren die Chefs und Chefinnen der DAX-Unternehmen nicht mehr am Rednerpult, sondern im Talkshow-Sessel, von wo aus sie die Fragen einer smarten Moderation beantworten, während die Regie besondere Highlights des Jahres anhand von Einspielfilmen illustriert. Auch weitere „Studiogäste“, repräsentativ für unterschiedliche Stakeholdergruppen von den Aktionären bis zu Aktivisten, könnten die neuen Formate bereichern.

Was bringt uns die HV 2030?

Welches Format also wird die HV des Jahres 2030 haben? Eine Art Leistungsschau des Unternehmens vielleicht, ein multimedialer Messestand mit begleitenden Liveattraktionen für die Öffentlichkeit? Eine TV- und youtubetaugliche Inszenierung zwecks Information und Imagepflege? Artikulation unternehmerischer Stimmen im Konzert politisch-gesellschaftlicher Diskussion? Öffentlichkeitswirksame Positionierung des Top-Managements? Aufmerksamkeitsmoment im „War for Talents“? Oder eine Mischung aus alledem?

Unternehmen werden diese Fragen in den kommenden Jahren für sich beantworten und von dort aus auch die Vorstandsrede neu formatieren. Auf das Ergebnis darf man gespannt sein. Fest steht dabei nur: Rückwärts kann der Weg nicht führen. Die Welt der „Kristallsaal-Versammlung“ existiert nicht mehr. Doch wer sich daran noch erinnern kann, mag das zuweilen quälend langsame Tempo eher tolerieren, mit dem die deutsche Hauptversammlung seit Jahrzehnten zu mehr „kommunikativer Performanz“ unterwegs ist. Zumal ja auch die in diesem Jahr – nicht nur bei der Deutschen Telekom – vorhandenen (und vom VRdS bewerteten) Highlights einmal mehr zeigen: „Und sie bewegt sich doch!“

Autor/Autorin

Peter Sprong

Peter Sprong (Jahrgang 1966) ist Journalist, Autor und Ghostwriter. Seit rund 30 Jahren schreibt er (auch) CEO-Reden für Hauptversammlungen. Mit seiner SprongCom GmbH in Köln konzentriert er sich seit 2003 auf das rhetorische Handwerk sowie das Coaching von Rednerinnen und Rednern. Seit September 2022 ist er Präsident des Verbands der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS).