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Seit über einem Jahr sind die digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) in Deutschland im Einsatz – Zeit für eine erste Bilanz. Ein Interview mit Oliver Kirst, Geschäftsführer, Servier Deutschland GmbH.

Plattform Life Sciences: Herr Kirst, seit knapp über einem Jahr sind die DiGAs im Einsatz. Wie fällt Ihr Fazit aus?

Kirst: Mein Fazit fällt grundsätzlich sehr ­positiv aus. Dass DiGAs in Deutschland in die Regelversorgung aufgenommen wurden, ist eine große Chance für Patienten, die aktuelle Versorgungssituation in Bereichen, in denen Lücken vorherrschen, zu verbessern. Es ist aber auch eine große Chance, die Gesundheitsversorgung als Ganzes weiter entscheidend voranzutreiben.

Allerdings: DiGAs sind in Deutschland eingeführt, aber noch nicht vollends etabliert. Hier muss man sich expliziter die einzelnen Schritte anschauen, bevor eine DiGA überhaupt in den Markt kommt– und insbesondere bis zum Patienten. So hat sich etwa der Evaluierungsprozesses auf der Basis des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) in der Kürze der Zeit ausgezeichnet etabliert. Es wird nach ­hohen Qualitätsstandards geprüft. Nach rund 120 Anträgen wurden bis Ende 2021 l­ediglich 28 DiGAs in das Verzeichnis aufgenommen. Überprüft wurden dabei die Wirksamkeit in Form positiver Versorgungseffekte, aber auch datenschutzrechtliche Aspekte. Daneben gibt es aber noch weitere Schritte auf der Ebene der Ärzteschaft, der Kosten­träger und natürlich der Patienten selbst.

Wo sehen Sie noch Defizite?

Nach gut einem Jahr bestehen in Teilen der Ärzteschaft noch erheblicher Aufklärungs- und Informationsbedarf sowie technische Hürden, die zum Teil dazu führen, dass sich die Verschreibung von DiGAs auf dieser Ebene hier noch nicht vollkommen durchgesetzt hat. Hier scheinen niedergelassene Ärzte, ins­besondere Fachärzte, Psychiater und Psychotherapeuten, den DiGAs wesentlich aufgeschlossener zu sein als Klinikärzte, ­welche sie derzeit nur im Zuge des Entlassmanagements verordnen dürfen; hierzu fehlt derzeit jedoch noch ein Rahmenvertrag.

Darüber hinaus ist es auf der Ebene der Kostenträger, also der Krankenkassen, aus meiner Sicht noch nicht gelungen, DiGAs als neuen Versorgungssektor vollends anzuerkennen, um sie für den Patienten einfacher und schneller verfügbar zu machen.

Und auch bei den Patienten selbst besteht aus meiner Sicht noch ein erhöhter Informationsbedarf. Zudem muss der Zugang zu den DiGAs vereinfacht werden. Bis zur eigent­lichen Nutzung müssen derzeit noch zu viele Schritte absolviert werden: von der Rezept­einreichung bei der Krankenkasse bis hin zur Zusendung des Zugangscodes an die Patienten und dem eigentlichen Download. Dieser Prozess kann natürlich funktionieren – doch je nach Krankheitsbild, etwa bei psy­chischen Erkrankungen, haben wir es auch mit Patienten zu tun, die diesen Prozess nicht immer mit der nötigen Agilität bewältigen.

Das heißt konkret, der Evaluierungsprozess ist professionell etabliert über das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Aufklärungsbedarf besteht aber noch seitens der Ärzteschaft, der Kosten­träger und der Patienten. Gerade bei Letzteren müssen Hürden abgebaut werden. Insgesamt fällt mein Fazit aber sehr positiv aus.

Hat Corona die Anwendung von DiGAs noch einmal beschleunigt?

Corona hat aus meiner Sicht ein deutliches Schlaglicht auf die Bereiche gesetzt, in denen ein zwingender Handlungsbedarf in unserem Gesundheitswesen herrscht. Corona ist ganz generell ein Beschleuniger für das gesamte Thema „Digitalisierung“. Hätten wir bereits frühzeitig eine flächendeckende Digitalisierung des Gesundheitswesens gehabt, hätte man m.E. deutlich früher zielgerichteter agieren können, anstatt im Nachgang vor dem Hintergrund steigender Fallzahlen zu reagieren.

Darüber hinaus ist Corona aber auch ein „Proof-of-Concept“ für die Digitalisierung. Es hat sich gezeigt, dass Digital Health funktioniert, dass auch virtuelle Gespräche ihre gewünschte Wirkung erzielen können. Auch zahlreiche Skeptiker konnten überzeugt werden.

Insgesamt wird die Pandemie nicht spurlos an uns vorbeigehen. Die Zahl psychischer Erkrankungen hat deutlich zugenommen. Jetzt wird realisiert: Der Patient benötigt dringend Unterstützung! Und das in einer Zeit, in der Arztbesuche nicht so einfach möglich sind bzw. unter den coronabedingten Einschränkungen möglich waren. Ein Patient wartet ­gegenwärtig rund fünf Monate auf einen ­Psychotherapieplatz. Nur 17% aller Betroffenen bekommen tatsächlich einen Therapieplatz. Hier hoffe ich, dass sich der Proof-of-Concept der Digitalisierung weiter etabliert und in Zukunft die Chancen der Digitalisierung weiter genutzt werden – und zwar nicht nur im Bereich der DiGAs, sondern auch in den Bereichen elektronisches Rezept, Telemedizin oder der elektronischen Patientenakte.

Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Deutschland bei der Nutzung der DiGAs eine Führungsposition innehat, beim Thema „Digitalisierung“ aber noch teils erheblichen Nachholbedarf aufweist?

Das ist auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar. Grundsätzlich möchte ich aber betonen, dass wir ein hervorragend funktionierendes Gesundheitssystem haben. Der Vorsprung Deutschlands im Bereich der DiGAs beruht aus meiner Sicht erstens auf einer ­exzellenten Unternehmenskultur aus Start-ups und Hubs, die sich zusammengesetzt haben, um in diesem Bereich die Chancen und Möglichkeiten zu evaluieren und zu entwickeln.

Zweitens wurde der Fokus nicht nur auf das System gesetzt, sondern auch auf den ­Patienten. Es wurden Studien durchgeführt, die belegt haben, dass durch die Anwendung von DiGAs positive Effekte auf die Gesundheitsversorgung erzielt werden können und dass sich ein medizinischer Nutzen erzielen lässt in Bereichen, in denen Patienten große medizinische Bedürfnisse haben. Dies hat auch dazu geführt, dass die rechtlichen Grundlagen zur Nutzung der DiGAs in der Gesundheitsversorgung in der Regelver­sorgung etabliert wurden.

Die Probleme und Diskussionen etwa bei den Themen „elektronische Patientenakte“ oder „elektronisches Rezept“ resultieren meiner Ansicht nach aus einer Komplexität und ­„Artenvielfalt“ der Systeme, die nicht so ­harmonisiert sind wie etwa in anderen ­Ländern. Dies liegt m.E. zum Teil an unserem föderalen System, aber auch an den teilweise überlasteten Selbstverwaltungsorganen, die vom Gesetzgeber mit der Umsetzung beauftragt wurden.

Hinzu kommt die Diskussion um den Daten­schutz. Das Thema „Daten“ ist zu negativ konnotiert und wird häufig mit Datenmissbrauch gleichgesetzt. Gerade Patienten, die aufgrund ihrer Erkrankung etwa in einer Akutsituation stark eingeschränkt sind, käme eine elektronische Patientenakte sehr zugute, auf deren Grundlage eine schnelle medizinische Versorgung organisiert werden kann.

Es braucht in Deutschland ein Bewusstsein dafür, was möglich ist, wenn man Daten richtig und möglichst effizient nutzt. Um dies zu realisieren, wird aktuell das Bundesdatenforschungszentrum aufgebaut, angegliedert an das BfArM. Ich bin ein Anhänger der „Opt-out-Regelung“, dass all meine Daten automatisch ­genutzt werden können, sofern ich diesem nicht explizit widerspreche. Nur so können wir die nötigen Erkenntnisse gewinnen, um Forschung zu optimieren und fortführen zu können.

Haben sich DiGAs auch im Ausland durchgesetzt?

In Deutschland existieren das Digitale-­Versorgung-Gesetz und die Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV). Dieses System ist m.E. weltweit einmalig, und ­damit haben wir die Chance, DiGAs in der ­Regelversorgung anzuwenden. Aufgrund dieser Vorreiterrolle dient Deutschland hier zunehmend als eine Art Blaupause für andere Länder. Der französische Präsident, Emmanuel Macron, hat sich persönlich über das deutsche System der DiGAs informiert; aktuell soll in Frankreich ein vergleichbares aufgebaut werden. Unsere Nachbarländer sehen also, wie so ein System funktionieren kann, um DiGAs in die Regelversorgung aufzunehmen.

Wie hat sich deprexis entwickelt, das seit März 2021 als DiGA verordnungsfähig ist? Sehen Sie noch weiteres Potenzial?

deprexis ist eine webbasierte Psychotherapie, die sich sehr individuell und flexibel den Bedürfnissen des jeweiligen Patienten anpasst. Die DiGA ist seit über einem Jahr dauerhaft beim BfArM gelistet und damit für die gesetzliche Krankenversicherung erstattungsfähig. Über zwölf Studien belegen bis heute die Wirksamkeit von deprexis. Auch wenn deprexis im Markt eine hohe Akzeptanz erfährt, ist das Potenzial noch nicht vollends ausgeschöpft, und zwar aus den genannten Gründen der bestehenden Informationsdefizite oder technischen Hürden. Ich bin sicher, dass sich deprexis noch weiter im Markt etablieren wird, sobald diese Defizite und Hürden weiter abgebaut werden.

Wo sehen Sie persönlich den DiGA-Markt in fünf Jahren?

In fünf Jahren ist der DiGA-Markt im deutschen Gesundheitswesen fest etabliert. Wir werden DiGAs genauso einsetzen, wie wir heute Medika­mente verordnen, und zwar von der Prävention über die Diagnose bis hin zur Therapie.

Weiterhin wird verstärkt das Thema „künstliche Intelligenz“ hinzukommen, um z.B. Daten noch intensiver auswerten zu können. Dann werden Digitalisierung und künstliche Intelligenz miteinander verknüpft werden und generell etliche positive Effekte für die Gesund­heitsversorgung in Deutschland ermöglichen.

Anders ausgedrückt: In fünf Jahren werden DiGAs zu einer Normalität und intensiv genutzt werden, so, wie wir alle heute den Onlineeinkauf nutzen.

Herr Kirst, vielen Dank für das Gespräch.


Zur Person

Oliver Kirst ist Geschäftsführer der Servier Deutschland GmbH. Der studierte Pharmazeut ist seit 1992 im Unternehmen tätig und hatte verschiedene internationale Positionen bei Servier inne.

Das Interview erscheint in der Ausgabe „Smarte Medizin“ der Plattform Life Sciences 1/22.

Autor/Autorin

Holger Garbs ist seit 2008 als Redakteur für die GoingPublic Media AG tätig. Er schreibt für die Plattform Life Sciences und die Unternehmeredition.