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Seit dem Ausbruch der Coronapandemie vor mehr als zwei Jahren hat die chinesische Wirtschaft unruhige Zeiten durchlaufen. Der schnellen wirtschaftlichen Erholung folgten 2021 neue Turbulenzen. Auslöser waren die scharfen regulatorischen Einschnitte der chinesischen Regierung in den Bereichen Technologie, Immobilien und Bildung mit dem Ziel, soziale Ungleichheiten einzudämmen. Unabhängig davon ist der chinesische Gesundheitssektor zu einer Schlüsselindustrie für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes aufgestiegen. Die chinesische Gesundheitsindustrie hat während dieser Zeit nochmals deutlich an Qualität gewonnen und sich noch stärker international ausgerichtet. Dadurch hat die Branche auch an Attraktivität für die Investoren gewonnen.

Chinas Gesundheitsindustrie am Wendepunkt
Remo Krauer, Bellevue Asset Management.

Der chinesische Gesundheitssektor hat seine regulatorische Umgestaltung bereits seit Jahren hinter sich. Innerhalb der letzten sieben Jahre wurden die klinischen Studien und Zulassungsverfahren an internationale Standards angeglichen. Zugleich vergrößern die von den Regierungsbehörden zentralisierten Einkäufe bei Generika den finanziellen Spielraum bei den staatlichen Förderprogrammen für innovative Therapien. Der im letzten Jahr von der Kommunistischen Partei verabschiedete 14. Fünfjahresplan definiert ein innovatives Gesundheitswesen als Kernelement einer technologisch unabhängigen Volkswirtschaft.

Die Fakten untermauern, dass Chinas Gesundheitsindustrie zu einem ökonomischen Schlüsselfaktor geworden ist. Schätzungen gehen davon aus, dass der Sektor in den nächsten Jahren im Schnitt um 10% bis 12% und damit doppelt so stark wie das chinesische Bruttoinlandsprodukt wachsen wird. Eine treibende Kraft ist die demografische Entwicklung. Im Jahr 2050 wird sich der Anteil der über 60-Jährigen in China auf rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung erhöht haben. Zeitgleich steigt mit dem Wohlstand der stark wachsenden Mittelschicht das Bedürfnis nach einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung. Um die Bevölkerung zufriedenzustellen, räumt die regierende Kommunistische Partei dem Ausbau einer unabhängigen und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung eine hohe Priorität ein. Entsprechende geld- und fiskalpolitische Stimuli fördern diese Entwicklung. Während die US-Notenbank mit drei Zinserhöhungen in diesem Jahr rechnet, geht China mit geldpolitischen Lockerungen aktuell den entgegengesetzten Weg.

Qualitätsansatz setzt sich durch

In der Praxis bedeuten die Aufholeffekte der Gesundheitsversorgung in China zweierlei. Zum einen bleiben der Zugang und die Bezahlbarkeit von Medikamenten und Dienstleistungen ein zentrales Element der Regierungspolitik. Zum anderen sorgen die verbesserten Rahmenbedingungen dafür, dass China bei der Entwicklung von innovativen Therapien gegenüber dem Westen und hier vor allem den USA immer stärker aufholt. So veröffentlicht China hinter den USA mittlerweile die meisten wissenschaftlichen Publikationen über Biotechnologie. Aktuelle Schätzungen von Bernstein Research und Evaluate Pharma erwarten für Chinas Medikamentenmarkt von 2018 bis 2023 ein jährliches Wachstum von im Schnitt 14% auf ein Gesamtvolumen von umgerechnet 166 Mrd. USD. Im selben Zeitraum wird sich der Anteil der Originalmedikamente mit Patentschutz am Gesamtumsatz von 40% auf 64% erhöhen. Diese Zahl verdeutlicht am stärksten, dass China bei der Qualität der Medikamentenentwicklung den Wandel von „Wachstum zuerst“ zu „Qualität zuerst“ längst vollzogen hat.

Hand in Hand geht dieser Fortschritt mit den zunehmenden Kooperationen. Immer mehr werden chinesische Biotechfirmen für internationale biopharmazeutische Unternehmen zum Partner der Wahl für den Markteintritt in China, was die Entwicklung, Zulassung und Vermarktung von Arzneien angeht. So erhöhte sich von 2018 bis 2021 die Zahl der an internationale Firmen auslizenzierten Wirkstoffe aus chinesischen Laboren von 37 auf 83 klinische Kandidaten. Im Gegenzug stieg die Zahl der nach China einlizenzierten Substanzen von 3 auf 21. Verglichen etwa mit den Allianzen zwischen Firmen aus den USA und Europa sind das noch niedrige Zahlen. Die Richtung weist jedoch den Weg für dieses Jahrzehnt.

Wirft man einen Blick darauf, in welchen Krankheitsfeldern China mit aussichtsreichen klinischen Produkten am schnellsten aufgeholt hat, heben sich vier Indikationen ab. In der Krebsmedizin haben chinesische Biotechs unter den neuen Therapieansätzen bei den Immuntherapien, bispezifischen Antikörpern und mit Chemoadjuvantien verstärkten Antikörpern (ADCs) Fortschritte erzielt. Dasselbe gilt für die Zell- und Gentherapien. In der Diabetesbehandlung, die in China zu einem immer größeren medizinischen Problem wird, gewinnen lokale Anbieter Marktanteile. Und schlussendlich entwickeln und produzieren chinesische Firmen Impfstoffe, Antikörper und antivirale Therapien gegen COVID-19. Um die regulatorischen Auflagen für eine US-Zulassung zu erfüllen, gehen Firmen dazu über, neben chinesischen Patientendaten auch Daten aus internationalen klinischen Studien einzubeziehen.

Legend Biotech ist ein Paradebeispiel für eine chinesische Biotechfirma, die vor dem grossen internationalen Durchbruch steht. Aufgrund der in den klinischen Studien gezeigten hohen Wirksamkeit könnte das Präparat als erstes Produkt aus China zur Erstlinienbehandlung in dieser aggressiven Blutkrebsform avancieren.

Fazit für Investoren

Aus der zunehmenden Reife des chinesischen Gesundheitssektors ergeben sich attraktive Anlageopportunitäten. Aktuell notieren die Bewertungen auf Tiefständen, denn ungeachtet der starken Fundamentaldaten bei den meisten Unternehmen wurde der Sektor 2021 im Zuge des allgemeinen Ausverkaufs bei chinesischen Aktien mit in die Tiefe gezogen. Marktzulassungen wie möglicherweise bald bei Legend werden die chinesische Biotechindustrie in den nächsten Jahren immer stärker in den Blickpunkt der internationalen Investoren rücken.

 

ZUM AUTOR

Remo Krauer ist seit 2018 Senior Portfolio Manager Healthcare Funds & Mandates bei Bellevue Asset Management. Zuvor war er bei der Zürcher Kantonalbank tätig, zuerst als Senior Portfoliomanager, dann als Head Portfolio Konstruktion für Private Vermögensverwaltung. Er hat einen Bachelorabschluss in Betriebsökonomie von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

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Remo Krauer