HV als Generalabrechnung

Wer einen Blick in die Zukunft werfen will, der muss zunächst die Vergangenheit kennen. So sagt es der Volksmund. Dies gilt mustergültig für die bevorstehende Hauptversammlungssaison der großen deutschen Aktiengesellschaften. Die ersten HVs sind bereits gelaufen. Wer sich die Diskussionen bei den Treffen etwa von Infineon, Siemens oder ThyssenKrupp anschaut, der erhält einen Vorgeschmack auf das, was die Aktionäre in diesem Jahr erwartet: Vielerorts wird die HV zur Generalabrechnung genutzt werden. Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), die mit 60 HV-Sprechern über 850 Aktionärstreffen jährlich besucht, stellt sich auf eine besonders kritikreiche Saison 2009 ein. Bei vielen Firmen wird die HV zum „Tanz auf dem Vulkan“.

Denn die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat in den Bilanzen vieler Unternehmen zu massiven Verwerfungen geführt und die Kurse vieler Aktien tief in den Keller geschickt. Viele Unternehmen haben zu spät oder falsch reagiert, so dass ihre Aktien noch deutlich stärker verloren haben als andere Branchenvertreter. Außerdem interessiert die Anteilseigner in diesem Jahr ganz besonders der Blick nach vorne. Die Unsicherheit an den Märkten dauert unvermindert an. Für Anteilseigner und auch für uns als Aktionärsvertreter wird es daher ganz entscheidend sein, wie das Management eines Unternehmens mit dieser Situation umgeht. Werden die richtigen Weichen gestellt? Welche strategischen Maßnahmen wurden ergriffen? Was macht die Unternehmensfinanzierung, wie steht es um die Liquidität?

Konfliktgeladene HV-Saison

Alle Aspekte zusammen machen die diesjährige Hauptversammlungssaison zu der interessantesten aber natürlich auch konfliktgeladensten seit vielen Jahren. Dies bestätigen auch die HV-Sprecher der DSW. Eine Umfrage aus den vergangenen Wochen zeigt hier ein eindeutiges Ergebnis. Auch ohne Kenntnis der konkreten Tagesordnungen ist absehbar, dass das Konfliktpotenzial immens ist. Dies gilt 2009 erstmals in größerem Stil auch für viele Unternehmen aus der ersten Reihe der DAX-Familie, wie die Deutsche Bank und die Commerzbank oder auch Continental.

Egal, ob Vertreter der Fonds, Privataktionäre oder Anlegerschützer– sie alle werden den Finger in die zahlreichen Wunden legen, die es in diesem Jahr zu erklären gilt: Zunächst ist da die Abrechnung mit dem vergangenen Geschäftsjahr. Dass die Finanzkrise alle Unternehmen erreicht haben dürfte, ist keine Frage. Aber wann genau sind die Auftragseingänge abgeknickt, wann sind die Umsätze und das Ergebnis zurückgegangen? Viele Unternehmen haben noch im September und Oktober, als die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers die Märkte in Schockstarre versetzt hat, von stabilen und sogar steigenden Aufträgen und Umsätzen berichtet. Umso schlimmer waren die Gewinnwarnungen wenige Wochen später.

Risikomanagement auf dem Prüfstand

Konkret geht es nun um die Frage, inwieweit das Risikomanagement versagt hat? Was steht im Risikobericht, nur Allgemeinplätze oder konkrete Gefahren? Und waren die bekannt gewordenen Schäden im Risikobericht überhaupt erwähnt? Wie schnell wurden die Jahresziele angepasst und wann wurde die Öffentlichkeit informiert? Diese Fragen müssen sich Vorstand und Aufsichtsrat der Unternehmen bei ihrer diesjährigen Hauptversammlung gefallen lassen müssen. Denn im Kern sind die Vorstände der Unternehmen ja immer auch die Vermögensverwalter des Aktionärskapitals. Aufsichtsräte sollen sie dabei kontrollieren. Wenn Vorstände durch falschen Zweckoptimismus, durch Betriebsblindheit oder falsche Reaktionen den Aktienkurs noch deutlich mehr auf Talfahrt geschickt haben als die entsprechenden Indizes, dann wird es dafür auf den Hauptversammlungen die Quittung geben.

Schmerzliche Folgen hat das auch für die Gewinnbeteiligung. Die Dividende wird bei vielen Unternehmen schon in diesem Jahr sinken oder sogar ausfallen. Auch wenn Finanzminister Peer Steinbrück angesichts des bevorstehenden Wahlkampfes gerne den Verzicht auf Dividenden predigt: Für Aktionäre und die deutsche Aktienkultur insgesamt ist die Dividende ein unverzichtbarer Bestandteil des Investments. Sie ist ein notwendiges Entgelt, ein Zins auf das eingesetzte Risikokapital. Eine Kürzung oder gar der Ausfall der Dividende wäre daher ein Tiefschlag für jeden Aktionär. Zumal: Über die Dividende zu entscheiden, ist schließlich immer noch ureigenes Vorrecht des Aktionärs als Eigentümer des Unternehmens ist, und nicht die Politiker.

Keine Prognosen sind auch keine Lösung

In diesem Jahr wird aber neben dem Resümee des Vorjahres der Blick nach vorne besonders wichtig sein: Die Unsicherheit durch die Finanzkrise und der rapide Einbruch der konjunkturellen Nachfragen haben dazu geführt, dass viele Firmen Prognosen für 2009 gänzlich verweigern. Dieses so genannte „Fahren auf Sicht“ ist allerdings nicht im Sinne der Aktionäre. Natürlich ist die Prognosesicherheit das A und O der Kapitalmarktkommunikation. Die eigenen Planziele einzuhalten, ist Pflicht. Aber aufgrund der bestehenden Unsicherheiten gar keine Ziele mehr auszurufen, kann auch nicht richtig sein. Aktionäre brauchen schließlich diese Einschätzung der Zukunft. Sie sind ja die Träger des Kapitalrisikos.

Deshalb muss auf der HV geklärt werden: Was sagen die ersten Monate über das neue Geschäftsjahr aus? Kann eine Umsatz- und Gewinnerwartung zumindest grob gegeben werden? Bei jedem Unternehmen muss geklärt werden, ob und welche Prognosen abgegeben werden können, beziehungsweise wann solche aussagekräftigen Prognosen wieder gegeben werden können. Zudem sollten auch die notwendigen und bevorstehenden Restrukturierungsmaßnahmen nach innen und nach außen offen kommuniziert werden. Welche Strategiewechsel und welche Restrukturierungsmaßnahmen sind geplant? Und wann sollen sie umgesetzt werden? Aktionäre haben ein Anrecht darauf, die wirkliche Situation ihres Unternehmens zu erfahren.

Das betrifft vor allem die Liquiditätssituation. Denn dies ist der Kern aller Fragen zum laufenden Geschäftsjahr: Über welche Mittelauspolsterung verfügt das Unternehmen noch? Wie hoch ist der Liquiditätsbedarf? Wie sieht die Refinanzierungsstrategie aus? Wer auf diese Frage keine befriedigenden Antworten geben kann, der hat die Aktionäre mit Sicherheit gegen sich.

Ausblick

Schon in den vergangenen Jahren sind die Präsenzen auf den Hauptversammlungen dank der Bemühungen der Unternehmen auf annähernd 60% im DAX-Durchschnitt gestiegen. Angesichts der Vielzahl an kritischen Punkten ist damit zu rechnen, dass diese Marke in diesem Jahr mindestens erreicht wird.

Von Ulrich Hocker, Hauptgeschäftsführer der DSW (Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V.)

Der Artikel erschien ursprünglich in der GoingPublic Ausgabe 04/09

 

Autor/Autorin