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Das „Technologieland Hessen“ informiert, berät und vernetzt zukunftsorientierte Unternehmen im gesamten Bundesland. Den Kern bilden die vom Hessischen Wirtschaftsministerium beauftragten Aktivitäten bei der Hessen Trade & Invest GmbH (HTAI). Im Technologiefeld Life Sciences und Bioökonomie befasst sich die Wirtschaftsfördergesellschaft des Landes mit den Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts – von der Biotechnologie über Pharma und Medizintechnik bis hin zur ­Bioökonomie. Ein Interview mit Dr. Janin Sameith, zuständige Projektleiterin der HTAI.

 

Plattform Life Sciences: Frau Dr. Sameith, die smarte oder auch personalisierte Medizin wird häufig als Revolution im Gesundheitswesen bezeichnet. Wie greift das Bundesland Hessen mit seinen Initiativen dieses Thema auf?

Sameith: Im Bereich personalisierte Medizin sind wir mit verschiedensten Initi­ativen verbunden – z.B. dem House of Pharma & Healthcare oder auch der Initiative Gesundheitsindustrie Hessen (IGH). Unsere Publikation „Personalisierte Medizin in Hessen“ aus dem Jahr 2011 war eine der ersten in Deutschland zu diesem ­Thema. Die jetzige Neuauflage wird die ­aktuellen Trends in Sachen molekulare Methoden (CRISPR-Genscheren und Gen-/Zelltherapien), Biopharmazeutika und ­Digitalisierung hervorheben. Wir verstehen personalisierte Medizin als eine Individualisierung der Therapien dank ausgefeilter Diagnostik. Es gibt einen holistischen Ansatz, wenn wir bei der Behandlung von Patienten Faktoren wie beispielsweise auch Umwelteinflüsse, Vorerkrankungen und natürlich insbesondere sein Genom berücksichtigen. Personalisierte Medizin kann ohne ein Ineinandergreifen von Schlüsseltechnologien nicht funktionieren. Die biotechnologisch hergestellten Biopharmazeutika sind eng verknüpft mit Biomarkern, die es ermöglichen, eine Krankheit spezifisch zu identifizieren und damit den Therapieerfolg maßgeblich zu bestimmen. Ein weiteres Segment ist die Materialwissenschaft, die neue Sensortechnologien oder Implantate ermöglicht. Im Bereich der Diagnostik finden wir ­zudem moderne digitale Bildgebungsverfahren.

Welche Rolle spielt dabei explizit die Digitalisierung, beispielsweise hinsichtlich der Diagnostik verschiedener Krankheitsbilder?

Wir glauben, dass die Diagnostik sehr stark von der Digitalisierung profitieren kann. Künstliche Intelligenz wird in ­Zukunft diagnostische Methoden stark verändern. Wichtig ist, dass künstliche ­Intelligenz die ärztliche Arbeit unterstützen wird – den Arzt ersetzen wird sie aber nie. Im Bereich der Bildgebung sehen wir schon heute große Fortschritte, ebenso in der Analyse von komplexen Datensätzen wie bei Blutbildern. Auch in der Bekämpfung von Corona brauchen wir digitale Tools, die uns helfen, solche Pandemieereignisse besser zu verstehen.

„Innovationen brauchen Kooperationen und interdisziplinäre Forschung“: Interview mit Dr. Janin Sameith, Hessen Trade & Invest
Dr. Janin Sameith, Hessen Trade & Invest: „Wir haben in Hessen starke Pharmafirmen, die daran arbeiten, einen Wirkstoff gegen Corona zu entwickeln“ Quelle: Hessen Trade & Invest GmbH.

Innerhalb der personalisierten Medizin finden sich viele interessante Ansätze. Welche davon findet man im Technologieland Hessen?

An der TU Darmstadt wird u.a. im Bereich Cyber Security geforscht, in einem ­Segment, das bei der Sicherung sensibler Patientendaten eine große Rolle spielt. In Sachen personalisierte Medizin sind ­verschiedenste Forschungsinstitute sehr aktiv in Hessen: Am Georg-Speyer-Haus in Frankfurt ist das Frankfurt Cancer Institut angesiedelt. Interessant ist hier der interdisziplinäre Ansatz: von der Grundlagenforschung mit der Frage, wie Krebs eigentlich entsteht, und dem Verständnis von Zell- und Molekularstrukturen bis hin zur Wirkstoffentwicklung und klinischer ­Erforschung; das Paul-Ehrlich-Institut in Langen, das als oberste Arzneimittelzulassungsbehörde für Gentherapien und auch als starker Forschungsstandort maßgeblich die personalisierte Medizin voranbringt. Mit dem Universitätsklinikum ­Gießen und Marburg haben wir einen ­weiteren sehr forschungsstarken Standort in Mittelhessen. Das Deutsche Zentrum für Lungenforschung in Gießen bildet hier einen Forschungsschwerpunkt. Das Institut für Virologie in Marburg mit seinen BSL4-Laboren bildet zusammen mit der Uniklinik in Frankfurt ein Kompetenz­zentrum zur Erforschung und Bekämpfung der SARS-CoV-2-Pandemie.

Hessen ist traditionell ein starker Standort im Bereich der Biopharmazie. Werden zuvor getrennte Industriezweige zunehmend miteinander verschmelzen?

Natürlich besitzt jede Branche für sich ein sehr etabliertes Fachwissen und Wertschöpfungsketten, und es ist wichtig, ­diese auch zu erhalten. Im Gesundheits­bereich sehen wir im Zuge der Digitali­sierung eine zunehmende sektorale ­Verschmelzung, wenn beispielsweise ein internationales Pharmaunternehmen verstärkt auch Medizintechnik und Diagnos­tika anbietet – ein Beispiel ist hier das ­Zuckermessgerät und der Insulin-Injektionspen bei Diabeteserkrankungen. Positiv ist, dass Digitalisierung verstärkt sektor­übergreifende Kooperationen befördert, wenn IT- und Techunternehmen stärker mit Pharma- oder Diagnostikfirmen zusammenarbeiten. Solche unternehmensübergreifenden Kooperationen wollen wir durch unsere Netzwerkarbeit fördern und unterstützen – vor allem ­kleinen und mittleren Unternehmen helfen wir bei der Partnersuche.

Welche weiteren Zukunftstrends kristallisieren sich schon heute heraus?

Es besteht ein großes gesellschaftliches und politisches Interesse, den Patienten und seine Daten zu schützen. Aber wir ­benötigen auch Daten von gesunden Menschen, um Krankheiten besser zu verstehen. So tauscht sich das Land Hessen mit Vertretern von Wirtschaft und Wissenschaft intensiv in der IGH aus, wenn es um das Thema „Datenspende“ oder die ­Bekämpfung von seltenen und auch vernachlässigten Krankheiten geht. Wir ­sehen, dass Kooperation und interdiszi­plinäre Forschung zu ganz wesentlichen Kriterien für Innovationen geworden sind. Ende 2019 haben wir zusammen mit der IGH eine Studie zur Entwicklung der hessischen Gesundheitsindustrie herausge­geben. Hessens Gesundheitsindustrie ist ein wichtiger Faktor für unseren Wirtschaftsstandort und zeichnet sich besonders durch sehr forschungsstarke Unternehmen aus. Ein zusätzlicher Zukunfts­trend in der Gesundheit ist die ­weitere ­Individualisierung der Medizin. Wir werden sicherlich in den nächsten Jahren ­einen noch breiteren Einsatz von perso­nalisierten Medikamenten erleben, auch außerhalb der Onkologie im Bereich der Stoffwechselerkrankungen oder Erkrankungen des zentralen Nerven­systems. Künftig könnten personenspezifische ­Datensätze zu Vorerkrankungen und ­Lebensstilen mithilfe der Digitalisierung in die Wirkstoffentwicklung und Therapieentwicklung einbezogen werden – vielleicht irgendwann sogar bis hin zur wirklich personalisierten Pille für einen einzelnen Patienten.

Zum Schluss eine Frage mit aktuellem Bezug: Wie können Sie die Corona-­Pandemie mithilfe von Digitalisierung bekämpfen?

Natürlich haben wir in Hessen starke Pharmafirmen, die daran arbeiten, einen Wirkstoff gegen Corona zu entwickeln – teilweise in starken internationalen Partnerschaften. Im Technologieland Hessen gibt es darüber hinaus Unternehmen, die sich im Bereich Bioinformatik und digitalen Datenbanken auch mit der Entwicklung und Anwendung von KI auseinandersetzen und ihre Plattformen in einem Open-Science-Ansatz mit Forschenden teilen. Das ist für die frühe Entwicklung oder Grundlagenforschung von besonderer Bedeutung. Sicherlich wird künstliche Intelligenz einen Beitrag bei der Therapieentwicklung oder der Evaluation von möglichen Kombinationstherapien auch im Kampf gegen Corona leisten.

Frau Dr. Sameith, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

Das Interview führte Holger Garbs.

 

ZUR INTERVIEWPARTNERIN

Dr. Janin Sameith studierte Biologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und promovierte 2013 an der Bundesforschungsanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe. Seit 2017 leitet sie die Aktivitäten im Technologiefeld Life Sciences & Bioökonomie im „Technologieland Hessen“.

Das Interview ist abgedruckt in der aktuellen Ausgabe „Smarte Medizin“.

Autor/Autorin

Holger Garbs ist seit 2008 als Redakteur für die GoingPublic Media AG tätig. Er schreibt für die Plattform Life Sciences und die Unternehmeredition.