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Der neue Rechtsrahmen für die virtuelle Hauptversammlung wurde von vielen kritischen Stimmen begleitet, von „vertane Chance“ bis „totes Recht“. Die Anlehnung der virtuellen Hauptversammlung (vHV) an die Präsenzhauptversammlung (pHV) schien zunächst als „Rolle rückwärts“, ist aber bei einer genaueren Analyse eine sehr geeignete Orientierung.

Mit der gesetzlichen Gleichstellung der Formate ergeben sich die Qual der Wahl und viele Fragen zur praktischen Umsetzung. Zahlreiche Emittenten erwogen erst die Rückkehr zur Präsenz. Das Interesse an der virtuellen Versammlung erwachte erst nach genauerer Prüfung, begünstigt durch stark gestiegene Hallenmieten, ­unklare Heizsituationen und die corona­bedingte Unsicherheit. Im Folgenden liegt der Fokus auf Fragen, wie sie aktuell bereits viele Unternehmen in der Vorbereitung auf die 2023-er HV-Saison beschäftigen.

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Das zu erwartende Set-up

Zwei Umsetzungsvarianten der vHV gibt es. Die erste Variante ist die XL-Version unter Hinzuziehung des „Vorfelds“ der Hauptversammlung, d.h. einer Frageneinreichung bereits vor der HV. Damit einher geht eine Beantwortung der Fragen vor der HV auf der Website, damit das Recht, diese nicht mehr in der Versammlung beantwor­ten zu müssen, bei gleichzeitigem Einräumen von Live-Redebeiträgen, Nach­fragen, Fragen zu neuen Gesichts­punkten und – wenn noch Zeit ist – zu allem anderen. Die Vorverlagerung der Fragenbeantwortung wird generell begrüßt, aber nicht unter den neuen Rahmenbedingungen. Dafür bedürfte es nach einhelligem Tenor der Emittenten ­einer Reform des Anfechtungsrechts. Diese Variante wird daher nur geringe praktische Bedeutung erlangen.

Die zweite Variante ist die vHV, die auf ­eine Frageneinreichung verzichtet und Live-Redebeiträge in den Mittelpunkt stellt – also die Verlagerung der Prozesse der Präsenz-HV in das Internet, nur unter Verzicht auf die HV-Räumlichkeit bei Beibehaltung der gewohnten Generaldebatte und Rechteausübung. Die „Präsenz-HV im Web“ wird das Mehrheitsmodell werden.

Paradigmen für die neue vHV

An oberster Stelle für die Durchführung von Hauptversammlungen in virtueller Form werden drei wesentliche Punkte stehen: die Sicherheit für die Versammlungsleitung und das Backoffice, die Bedienerfreundlichkeit für die Aktionäre und die Robustheit der gewählten Softwarelösung.

Die Aufgabe der Versammlungsleitung wird sich wieder deutlich von der in den COVID-vHVs unterscheiden. Die in der pHV notwendigen Skills einer Versammlungsleitung wie Aufmerksamkeit, Auffassungsgabe, Schlagfertigkeit und Kenntnis der rechtlichen Materie erfahren ihre Renaissance in der vHV, ergänzt um die medienbedingten Interaktivitäten z.B. mit der Regie. „Hinter der Kamera“ bedarf das Experten-Backoffice verlässlicher Abläufe. Dies betrifft die neuen Handlungsschritte hinsichtlich der Wortmeldung, die bei einer Medienkoordination liegen werden und die Handlungsschritte des bisherigen Wortmeldetischs zu übernehmen hat – auch diese Aufgabe ist somit ähnlich wie bei der pHV, aber etwas anspruchsvoller.

Videokommunikation wird zur Regel

Die Aktionäre wollen ihre Rechte möglichst barrierefrei ausüben, somit ist die Bedienerfreundlichkeit des Portals und seiner neuen Funktionen unabdingbar. Etwas Mitwirkung wird man allerdings von redewilligen Aktionären erwarten dürfen, z.B. bei deren technischer Ausstattung, denn das tut auch der Gesetzgeber, indem er die Videokommunikation zur Regelkommunikation macht. Doch auch dieses Medium hat seine Grenzen. Will man etwa durch einen FaceTime-Call aus dem ICE-Speisewagen teilnehmen, dürfte das die erfolgreiche ­eigene Rechteausübung gefährden.

Umsetzungen VOR der HV

Einberufung:

• Bis zum 31. August 2023 kann eine vHV ohne Satzungsermächtigung einmalig einberufen werden. Für Folgejahre ist ­eine Ermächtigung durch die HV erforderlich. Aus Investorenkreisen gibt es bereits kritische Anmerkungen sowohl zu deren Inhalt als auch zur Laufzeit. Zwei Jahre werden teils als Maximum ­gesehen. Erleichterungen für die Teilnahme des Aufsichtsrats in der vHV sollten in die Satzung einfließen.

• Für die anzupassenden und immer komplexeren Teilnahmebedingungen könnten flankierende schnell erfassbare Formulierungen, z.B. in Form von über die Website zu erreichende FAQs, erwogen werden.

Stellungnahme:

• Einige Emittenten hatten bei der COVID-vHV angeboten, Stellungnahmen vorab einzureichen. Dieses Feature hat es nun als Pflicht in die Neufassung des AktG geschafft. Es ist dabei bis fünf Tage vor der vHV zu ermöglichen, Stellungnahmen einzureichen, die einen Tag später zugänglich zu machen sind. Für die Umsetzung kann auf bewährte Prozesse zurückgegriffen werden. Kritisch ist dabei anzumerken, dass hier vom Gesetzgeber selbst von der Gleichstellung der Formate abgewichen wurde und Vorabstellungnahmen zu Präsenzveranstaltungen nicht vorgesehen sind.

Umsetzungen IN der HV

Wortmeldeprozess

• Ein Wortmeldewunsch wird über das Portal übermittelt. Eine Prüfung auf Korrektheit und technische Umsetzbarkeit erfolgt an einer Schnittstelle von Mediendienstleister und Emittent, der inhaltlich prüft, dies in direktem Gespräch innerhalb einer Videokonferenzplattform, deren Signal später auch für den Redebeitrag Verwendung finden wird. Technische Probleme lassen sich für das Protokoll dokumentieren. Während des Vorstandsberichts werden die Redner nacheinander kontaktiert, es erfolgen technische Prüfungen und ggf. Hinweise, wann und vor allem wie später der Redebeitrag erfolgen wird. Bis zum Aufruf durch den Versammlungsleiter wird der Redewillige seine Verbindung zum Emittenten in einem virtuellen Warteraum halten können, derweil ihm die Verfolgung der Versammlung möglich ist.

Anwesenheit Aufsichtsrat

• Eine Anwesenheitspflicht für den Aufsichtsrat besteht in der vHV, aber keine Verpflichtung, alle Personen permanent im Bild zu haben; einen Mehrwert bringt dies – auch in der pHV – bei den passiven AR-Mitgliedern nicht. Die Anwesenheit der AR-Mitglieder verbrieft das notarielle Protokoll.

Fragen-/Antwortenmanagement im Experten-Backoffice

• Das Experten-Backoffice wird sein Comeback feiern, denn beide Formate sind live – an dieser Stelle aber keine Unterscheidung, sondern der gleiche Prozess. Eine Überprüfung der Back­office-Größe nach längerer Pause ist allerdings sinnvoll. War das Backoffice zu groß, erhielten Teams keine Fragen? Eine hybride Einrichtung – Kernteam vor Ort, weitere Teams remote – entspricht mehr den Anforderungen unserer Zeit.

Versammlungsleitung

• Die Versammlungsleitung erlebt eine Renaissance, es kommt ihr in der vHV das gleiche Gewicht zu wie in der pHV. Versammlungsleitende Maßnahmen gab es in der COVID-vHV im Prinzip nicht. Mündlichkeit und Direktheit in Redneraufruf, Worterteilung (und -entziehung!), Ankündigung von Folgerednern, Hinweise auf Zeitüberschreitung, Umgang mit Antragstellungen etc. – dies alles liegt wieder bei der Versammlungsleitung, die hierfür auch wieder Sonderleitfäden benötigt. Die Choreografie gibt die Versammlungsleitung vor, die Medienregie hat dieser zu folgen. Der Einsatz von Bühnenkommunikationssystemen kann diese sinnvoll unterstützen.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalben: Es sind durchaus einige Abläufe zu überprüfen. Allerdings haben die Regeln zur ­COVID-vHV hier bereits ein gutes Fundament gelegt, deren Anpassung an die ­Erfordernisse der vHV nach § 118a AktG keine unlös­bare Aufgabe darstellen. Sie kann also kommen, die vHV nach Aktiengesetz!

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Autor/Autorin

Ingo Wolfarth

Ingo Wolfarth ist Key Account Manager und Senior Consultant bei Computershare Deutschland.

Christof Schwab

Christof Schwab ist Director Business Development bei Computershare Deutschland. Er verantwortet die Weiterentwicklung des gesamten Leistungsportfolios, von der Aktienregisterführung über Versammlungsservices bis hin zu Proxy-Solicitation-Maßnahmen und Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen (Employee Equity Plans).