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Diesen und weitere Artikel zum Thema Hauptversammlung finden Sie in der neuen Ausgabe des HV Magazins 01-2022.

Das Stimmrecht gehört zu den wichtigsten Aktionärsrechten. Entsprechend selbstverständlich sollte es zumindest innerhalb der Europäischen Union sein, dieses Recht auch grenzüberschreitend ausüben zu können. Die Realität sah lange allerdings völlig anders aus. In vielen Fällen war es aufgrund einer Reihe bürokratischer Hürden faktisch unmöglich, Stimmrechte auch auf Hauptversammlungen in einem anderen EU-Mitgliedsstaat auszuüben. So blieben Aktionäre oft in einer ganzen Kette von Intermediären (z.B. Banken) stecken, kamen schwer an die nötigen Unterlagen oder erhielten die Hauptversammlungseinladungen erst gar nicht. Mit der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARRL), die in der Hauptversammlungssaison 2021 erstmals zur Anwendung kam, sollte sich das deutlich verbessern. Die DSW (Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz) hat gemeinsam mit dem europäischen Verband BETTER FINANCE untersucht, ob das gelungen ist.

EU verfehlt eigenes Ziel deutlich

Obwohl die Europäische Union dem Thema ESG und damit auch dem G, also der Governance, große Bedeutung beimisst und zudem das Engagement der Aktionäre mehr und mehr in den Fokus stellt, trifft die Ausübung des grenzübergreifenden Stimmrechts, und damit des wichtigsten Rechtes der Aktionäre, nach wie vor auf erhebliche Hürden. Verantwortlich dafür ist in erster Linie eine Kombination aus langen und komplexen Ketten zwischengeschalteter Finanzinstitute (auch Intermediär-Ketten) sowie sogenannter Sammelkonten. Dies macht es für Aktionäre schwierig und oft kostspielig, ihre fundamentalen Rechte, nämlich die Rechte auf Teilnahme an und der Abstimmung in der Hauptversammlung, innerhalb der Europäischen Union auszuüben.

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Vor diesem Hintergrund hatte es sich der EU-Gesetzgeber mit der im September 2020 in Kraft getretenen zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARRL) und deren Durchführungsverordnung zum Ziel gesetzt, Hindernisse für die Beteiligung der Aktionäre, insbesondere bei der Ausübung des Stimmrechts, abzubauen. Die neuen europäischen Regeln sollten den Weg für mehr Aktivität bzw. Engagement durch die Aktionäre ebnen. Ein erster Lackmustest für die neuen Regeln war die Hauptversammlungssaison 2021, da hier die neuen Regeln erstmals anwendbar waren.

Die DSW hat zusammen mit dem europäischen Verband BETTER FINANCE und dessen Mitgliedsorganisationen untersucht, ob die neuen Regeln von den beteiligten Institutionen (Intermediären) tatsächlich umgesetzt wurden, ob also Aktionäre ihre Rechte auf Teilnahme und Abstimmung bei Hauptversammlungen ohne Probleme ausüben konnten, auch wenn sie Aktien von Unternehmen mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat halten.

Es bleibt eine lange Mängelliste

Die Ergebnisse der Untersuchung sind verheerend. In den allermeisten Fällen konnten Aktionäre in der Hauptversammlungssaison 2021 ihre Rechte im europäischen Ausland nicht oder wenn dann nur teilweise ausüben. Zudem wurden ihnen in zahlreichen Fällen hohe Kosten in Rechnung gestellt, teilweise bis zu 250 Euro pro Hauptversammlung.

Aus Sicht von DSW und BETTER FINANCE besteht vor diesem Hintergrund dringender Bedarf, die Prozesse insgesamt zu verbessern, und zwar vor allem durch:

• die Beseitigung jeglicher Hürden, die dem Engagement der Aktionäre im Wege stehen,
• die Lösung der Probleme, die sich aus langen und komplexen Intermediär-Ketten sowie Sammelkonten ergeben,
• eine deutliche Vereinfachung der Informationen auf das Notwendigste (KISS-Prinzip), zum Beispiel durch die Abschaffung einer Vorankündigungspflicht für die Teilnahme an der Hauptversammlung,
• die EU-weite Harmonisierung des sogenannten Record Date,
• eine EU-weit einheitlichen Definition des Begriffs „Aktionär“
• die EU-weite Harmonisierung der Dokumentationspflichten für Aktionäre.

Ebenfalls Handlungsbedarf gibt es bei der staatlichen Aufsicht. Es muss geklärt werden, welche Aufsichtsbehörde für die Überwachung von Hauptversammlungsprozessen und die Einhaltung der ARRL-Regeln zuständig ist. Schließlich sollte ein EU-einheitliches Aufsichtsregime eingeführt werden.

Viele Neobroker bieten Stimmrechtsausübung nicht an

Besonders dringlich wäre das bei den sogenannten Neobrokern, für die sich trotz der wachsenden Bedeutung dieser Anbieter EU-weit aktuell niemand so recht für zuständig hält. Die europäische Aufsichtsbehörde winkt ebenso ab wie zum Beispiel in Deutschland die BaFin. Besonderes Augenmerk sollte dabei dem Verhalten in dem Governance-Prozess sowie der Praxis bei der Einhaltung der ARRL-Regeln gelten, denn speziell Neobroker bieten in einigen Fällen eine Stimmrechtsausübung für Privatanleger gar nicht erst an, obwohl die Aktionärsrechterichtlinie SRD II genau dies klar vorschreibt.

Dabei nimmt die Bedeutung der Neobroker im Privatanlegermarkt stetig zu. Die Anbieter gewinnen angetrieben durch die Digitalisierung verschiedener Finanzdienstleistungen an Dynamik und Präsenz. Innerhalb der FinTech-Familie bieten die Neobroker Makler- oder Handelsdienstleistungen an, und zwar mit geringen oder sogar völlig ohne Provisionen. Auf diese Weise sind sie für eine große Zahl von insbesondere jungen und digital versierten Privatanlegern interessant und damit für eine Gruppe, die etwa laut der belgischen Finanzaufsichtsbehörde (FSMA) während des COVID-19-Zeitraums deutlich aktiver geworden sind. Gerade diese junge und neue Anlegergruppe, die durch die Neobroker erst an die Aktienanlage herangeführt wurde, wird jedoch andererseits von der Stimmrechtsausübung abgehalten, wenn Neobroker ihren Pflichten aus der ARRL nicht nachkommen

Fazit: Noch sehr viel zu tun!

Die Ergebnisse der Studie haben deutlich gezeigt, dass die EU auch nach dem Inkrafttreten der zweiten Aktionärsrechterichtlinie noch weit von ihrem Ziel entfernt ist. Die grenzüberschreitende Wahrnehmung der Aktionärsrechte, insbesondere des Stimmrechts, bleibt für die Anteilseigner innerhalb der EU schwierig, wenn nicht gar unmöglich und ist in vielen Fällen zudem mit hohen Kosten verbunden. Die Liste der notwendigen Nachbesserungen ist entsprechend lang. Neben der Beseitigung der organisatorischen Mängel, wäre die Einführung einer EU-weit gültigen Definition des Begriffs ‚Aktionär‘ erforderlich – sprich die einheitliche Klärung der Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Anteilseigner stimmberechtigt ist.

Zudem sollten Finanzintermediäre auf die Einhaltung der ARRL-Bestimmungen und den Geist der Römischen Verträge verpflichtet werden, insbesondere indem sie den Aktionären im Fall der Ausübung der Stimmrechte auf EU-Ebene keine im Vergleich zur nationalen Ausübung des Stimmrechtes höheren Gebühren berechnen.

Nicht zuletzt plädiert die DSW dafür, dass die politischen Entscheidungsträger der EU neue Technologien wie Blockchain einbeziehen, um eine direkte Kommunikation zwischen Emittenten und Aktionären zu ermöglichen und zu fördern. Im 21. Jahrhundert ist es an der Zeit, dass europäische Bürger nicht nur den Kauf und Verkauf von Wertpapieren, sondern auch ihre Rechte hieraus, wie z.B. ihr Stimmrecht (entweder selbst oder durch Bevollmächtigte wie beispielsweise unabhängige Aktionärsvereinigungen), auf ihrem Smartphone/Tablet ohne weitere Hürden ausüben können.

Zur Studie

Die Studie zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie II (ARRL) wurde gemeinsam von der DSW (Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz) und der europäischen Anlegerschutzorganisation BETTER FINANCE durchgeführt. Anlass war die Umsetzung der ARRL II am 3. September 2020. Untersucht wurde, inwieweit dies in der Hauptversammlungssaison 2021, die erstmals vollständig unter dem neuen Rechtsrahmen stattfand, die Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Wahrnehmung von Aktionärsrechten, wie etwa der Ausübung des Stimmrechts, verbessert hat. Die Studie umfasst die Zeit von März 2021 bis August 2021 und erfasst Anleger aus 13 europäischen Staaten die auf Hauptversammlungen von elf europäischen Ländern abgestimmt haben. Die komplette Studie ist über folgenden Link abrufbar: https://www.dsw-info.de/publikationen/sonstige-publikationen/

Autor/Autorin

Christiane Hölz