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Wie ist es möglich, dass stimmberechtigte Aktionärinnen und Aktionäre mit einem Anteil von 20% bis 25% des ­ausgegebenen Aktienkapitals eine Generalversammlung dominieren können? Die Praxis zeigt, dass zwei Mechanismen ­dafür verantwortlich sind: Einerseits lassen sich nicht alle Aktionär:innen ins Aktienbuch eintragen, andererseits verzichten auch eingetragene Aktionär:innen regelmäßig auf eine Stimmabgabe. Warum aber wird das Stimmrecht nicht konsequent wahrgenommen?

Im Hinblick auf die Saison der Generalversammlungen von börsennotierten Unternehmen stellt sich die Frage, wie die Kräfteverhältnisse in einer Publikumsgesellschaft funktionieren – insbesondere bei solchen mit einer heterogenen Aktionärsstruktur. Die Praxis zeigt, dass vom ­gesamten ausgegebenen Aktienkapital nur ein Teil im Aktienregister eingetragen ist.

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Für das Aktionariat steht oft ein ­kurzfristiges Engagement und/oder die ­Dividende, aber nicht das Stimmrecht im Vordergrund. Auch gibt es Aktionärinnen und Aktionäre, die den administrativen Aufwand einer Eintragung scheuen oder – aus welchen Gründen auch immer – nicht registriert sein möchten. Hinzu kommt die Shareblocking-Problematik: Große institutionelle Anleger erachten eine Regis­trierung ihrer Bestände als potenzielles Hindernis, zeitnah aus dem Titel aussteigen zu können (dies allerdings zu Unrecht, weil das Trading durch die Registrierung nicht blockiert sein sollte).

Der Anteil der im Aktienbuch nicht ­registrierten Aktien (Dispoaktien) liegt bei großen schweizerischen Publikums­gesellschaften nicht selten zwischen 30% und 40%. Konkret bedeutet dies, dass nur rund 60% bis 70% des ausgegebenen ­Aktienkapitals im Aktienbuch mit Stimmrecht eingetragen und somit stimm­berechtigt sind. Unter Berücksichtigung allfälliger Aktien, die von der Gesellschaft gehalten werden, kann die Zahl sogar noch tiefer sein.

Aktienbuch keine vollständige Informationsquelle

Mit der Unterscheidung zwischen regis­triertem und nicht registriertem Aktien­kapital lassen sich aber noch keine definitiven Rückschlüsse ziehen, wer effektiv Eigentümer:in der Aktien ist. Das Aktienbuch ist keine vollständige Informationsquelle für die Zusammensetzung des ­Aktionariats – und zwar in zweierlei ­Hinsicht:

  • Keine Kenntnis trotz Eintragung: Zum einen figurieren im Aktienbuch großer schweizerischer Publikumsgesellschaften nicht selten sogenannte Nominees, die treuhänderisch größere Positionen von Aktien für eine Vielzahl von wirtschaftlich Berechtigten (Beneficial ­Owners) halten. Dies ist aktienrechtlich unbedenklich und gehört zu den legi­timen Gepflogenheiten. Im Aktienbuch mit Stimmrecht eingetragen ist lediglich der Nominee, nicht aber der ­Beneficial Owner. Die Gesellschaft weiß demnach nicht, wer diese Aktienpositionen im Hintergrund hält.
  • Kenntnis ohne Eintragung: Zum anderen kann ein Unternehmen Kenntnis über seine Aktionärinnen und Aktionäre haben, auch wenn diese nicht im ­Aktienbuch eingetragen sind; dies dann, wenn diese einen gesetzlich ­relevanten Schwellenwert an Aktien überschreiten und somit gegenüber der Gesellschaft meldepflichtig werden (Mindestgrenzwert von 3%). Auch kann der Verwaltungsrat via spezialisierte Finanzdienstleister Informationen über die Zusammensetzung des eigenen, nicht registrierten Aktionariats beziehen. Nicht alle eingetragenen Aktio­när:innen üben das Stimmrecht aus. An der Generalversammlung stimmberechtigt sind Aktionär:innen, die im Aktienbuch ­eingetragen sind, sich für die Generalversammlung registriert und eine ­Zutrittskarte angefordert haben.

Nicht alle registrierten Aktionär:innen üben das Stimmrecht aus

Stimmberechtigt sind auch jene Aktien, die nicht der eingetragene Aktionär oder die eingetragene Aktionärin persönlich vertreten, sondern die rechtsgültig – je nach den Statuten der Gesellschaft – durch eine andere Person, eine andere ­Aktionärin, einen anderen Aktionär oder – wie insbesondere während der COVID-19-Situation üblich – durch den unabhängigen Stimmrechtsvertreter vertreten werden.

Mit anderen Worten: Wer im Aktienbuch mit Stimmrecht eingetragen ist, aber auf die GV-Einladung nicht reagiert, also weder für sich eine Zutrittskarte bestellt noch sich rechtsgültig vertreten lässt, kann nicht abstimmen. Der an der Generalversammlung effektiv stimmberechtigte Anteil am Aktienkapital ist demnach kleiner als der im Aktienbuch eingetragene Aktienkapitalanteil, weil aus Erfahrung nie alle registrierten Aktionär:innen ihr Stimmrecht aktivieren (oder der Generalversammlung trotz Zutrittskarte dann doch fernbleiben).

Zahlen aus der Praxis zeigen, dass auf der Generalversammlung oftmals nur rund 60% bis 70% des stimmberechtigten Aktienkapitals vertreten sind. Mit anderen Worten: Rund ein Drittel der registrierten Aktionär:innen nimmt sein Stimmrecht nicht wahr. Wird, wie eingangs erwähnt, davon ausgegangen, dass ohnehin nur rund zwei Drittel des ausgegebenen Aktien­kapitals registriert und stimmberechtigt sind, kann festgestellt werden, dass an der Generalversammlung großer Publikumsgesellschaften aufgrund dieser Stimmrechtsabstinenz nicht selten deutlich ­weniger als die Hälfte des ausgegebenen Aktienkapitals repräsentiert ist.

Das hat zur Konsequenz, dass stimmberechtigte Aktionär:innen mit einem ­Anteil von 20% bis 25% des ausgegebenen Aktienkapitals durchaus eine General­versammlung dominieren oder zumindest maßgeblich Einfluss nehmen können.

Fazit

Die Kumulation der Nichtregistrierung und Stimmabstinenz ermöglicht Minderheiten eine Kontrollmehrheit. Was schließlich die Stimmen angeht, die von den physisch anwesenden Aktionärinnen und Aktionären an der Generalversammlung repräsentiert werden (sogenannte Saalstimmen), hat sich deren Zahl bei großen Publikums­gesellschaften im tiefen einstelligen Prozentbereich eingependelt. Der Löwenanteil wird regelmäßig durch den unabhängigen Stimmrechtsvertreter vertreten.

www.swissre.com

Ursprünglich erschienen in: The Reporting Times No 20/2022, Zeitung des Center for Corporate Reporting. www.reporting-times.com

Autor/Autorin

Dr. Felix Horber

Dr. Felix Horber ist Rechtsanwalt und Generalsekretär von Swiss Re, nebenamt­licher Oberrichter in Zug und Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen.