Jeder von uns sei ein individueller Nutzenmaximierer, der, wo immer es geht, opportunistisch handele, postulierten sie. Das klingt nicht eben schön, und doch dürfte jeder schon einmal zumindest ansatzweise dieses Verhalten an sich festgestellt haben.

Substituiert man den Begriff „Mensch“ durch „Person“ und verallgemeinert diesen, dann könnten die genannten Eigenschaften auch juristischen Personen, sprich Kapitalgesellschaften, zugesprochen werden.

Ob die Theorie nun ohne weiteres auf die Praxis übertragbar ist, läßt sich nicht pauschal sagen. Suchen wir uns zu diesem Anlaß ein Unternehmen, an dem wir die aufgestellten Thesen prüfen. Naheliegender Weise wählen wir eine aktuell im Anlegerinteresse hoch stehende Gesellschaft – ohne jeden Hintergedanken zum Beispiel Lycos Europe.

Lycos Europe betreibt unter verschiedenen Namen eine Vielzahl von Internet-Diensten für den europäischen Raum. Mit dem hohen Bekanntheitsgrad und viel Publicity wollen sie vom Internet-Boom profitieren. Im Geschäftsjahr 1998/99 (Schluß 30.6.) setzte das Unternehmen 10,8 Mio. Euro um. Bis 2000/01 soll der Erlös auf 80,3 Mio. Euro gesteigert werden. Wie es sich für ein richtiges „.com“-Unternehmen gehört, macht Lycos natürlich keinen Gewinn. Marktanteile sind es, die zählen. Und die wollen hart erkämpft werden. Mit einem gigantischen finanziellen Kraftakt will Lycos Europe zu den ganz Großen zählen. Aber Produktinnovation, Marketing und Akquisitionen wollen bezahlt werden – und da kommt die Börse ins Spiel. Genauer gesagt: Der Neue Markt, das Marktsegment, wo – etwas gehässig formuliert – alle hingehen, die viel wollen und wenig haben.

Aber zurück zu Lycos und unseren Thesen. Die Börse haussierte und Lycos brauchte zur Realisierung ihrer Pläne viel Geld. Was liegt da näher als ein Börsengang. Gesagt getan: Innerhalb weniger Wochen brachte Lycos seine Emission über die Bühne. An diesem Mittwoch fand die Handelsaufnahme statt, aber von einem geglückten Start kann, trotz „Internet-Phantasie“, keine Rede sein. Verstört müssen wir uns die Frage stellen: Wie konnte das passieren?

Die Erstnotiz entsprach mit 24 Euro exakt dem Ausgabepreis. Aber es kommt noch schlimmer. Im Handelsverlauf gab der Kurs weiter nach und schloß in Frankfurt am ersten Handelstag unter dem Emissionspreis bei 22,85 Euro. Bei einem Internetwert hatten wir wahrlich etwas anderes erwartet.

Im Vorfeld noch schien alles gut. Die Emission war immerhin mehr als 30fach überzeichnet und CEO Christoph Mohn bedankte sich für „das Vertrauen, welches Lycos Europe entgegengebracht wird.“ Einzig die zurückgehenden vorbörslichen Taxen waren Boten des gestrigen Debakels. Wer allerdings genauer hingeschaut hatte, für den war der Kursrutsch die logische Konsequenz… aus – Sie ahnen es – einem völlig überzogenen Emissionspricing! Lycos verlangte von seinen Investoren das 69fache des für 2000/01 erwarteten Umsatzes. Ein Niveau also, an das sich nicht einmal Web.de herangetraut hatte. Euphorischen Anlegern kann man viel abknöpfen, aber das sprengte den Rahmen. Wir kommen auf die zu Anfang aufgestellten Thesen zurück und können nun feststellen: Ja, das Beispiel Lycos Europe hat gezeigt, daß die Thesen auf Kapitalgesellschaften übertragbar sind. Außerdem müssen wir erkennen, daß opportunistisches Verhalten (Ausnutzung der Markt-Euphorie) und Nutzenmaximierung (Pricing) hier nicht nur ansatzweise, sondern unverhohlen in schon infamer Weise zu Tage tritt.

Was das nun für den weiteren Verlauf der Notierung bedeutet, wird sich zeigen. Ein Kursverlust von 50 % wäre in einer Schwächephase aber durchaus denkbar. Ob Herr Mohn genauso skeptisch ist, können wir an dieser Stelle nicht beantworten. Einzig sein Kommentar „… [Wir sehen] dem ersten Börsentag und einer langen und fruchtbaren Beziehung mit den neuen Aktionären mit Freude entgegen“ erhält nach dem schwarzen Mittwoch einen sehr schalen Beigeschmack.

Was ist Ihre Meinung zum Börsengang von Lycos Europe? Senden Sie ganz einfach Ihr Statement an: feedback@goingpublic-online.de. Wie freuen uns auf Ihre Meinung!

Die GoingPublic-Kolumne erscheint börsentäglich in Zusammenarbeit mit dpa-AFX.

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