Dr. Stephan Semrau, MJur, Syndikus, Bayer AG

Der Deutsche Corporate Governance Kodex enthält – neben einer Darstellung wesentlicher Gesetzesvorschriften – auch Empfehlungen („soll“) und Anregungen („sollte“) zu „anerkannten Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung“. Abweichungen von den Empfehlungen sind offenzulegen und zu begründen (§ 161 AktG). Ursprünglich als „soft law“ gedacht, haben die Kodex-Empfehlungen inzwischen eine stärkere normative Kraft, als ihnen eigentlich zugedacht war: Viele Unternehmen übernehmen die Kodex-Empfehlungen wohl, ohne ihre Eignung für das Unternehmen kritisch zu prüfen. Zudem hat die Rechtsprechung Ansätze zu einer Anfechtung von HV-Beschlüssen unter Berufung auf Kodex-Verstöße entwickelt.

Kodex-Empfehlungen mit HV-Bezug Empfehlungen zum Ablauf der HV

Die Empfehlungen und Anregungen des Corporate Governance Kodex betreffen überwiegend die Arbeit von Aufsichtsrat und Vorstand sowie deren Zusammenwirken. Ein Abschnitt ist aber auch „Aktionären und Hauptversammlung“ gewidmet. Wegen der hohen gesetzlichen Regelungsdichte beschränkt sich dieser Abschnitt auf eher untergeordnete, formale Aspekte des Ablaufs. Empfohlen wird insbesondere Folgendes:

  • elektronische Übermittlung von HV-Unterlagen auf Verlangen (Ziff. 2.3.2)
  • Unterstützung der Aktionäre bei der Wahrnehmung von Rechten und der Briefwahl sowie Angebot eines Stimmrechtsvertreters der Gesellschaft (Ziff. 2.3.3)
  • Erläuterung des Vergütungssystems in der HV (Ziff. 4.2.3 Abs. 6)

Diese Empfehlungen werden überwiegend befolgt (s. v. Werder/Talaulicar, DB 2010, 853, 855) und der Umgang mit ihnen ist inzwischen etabliert. Unsicherheiten ergaben sich mit der 2010 in den Kodex aufgenommenen Empfehlung zur Briefwahl (Ziff. 2.3.3): Die erst seit 2009 bestehende Möglichkeit der Briefwahl bieten nicht alle Gesellschaften an. Mit der verkürzten Formulierung der Empfehlung ist aber nicht ganz klar, ob Briefwahl angeboten werden soll oder ob empfohlen wird, den Aktionären Unterstützung zu leisten, wenn Briefwahl angeboten wird. Richtigerweise gilt Letzteres. Nur wenn eine Briefwahl angeboten wird, soll die Gesellschaft die Aktionäre dabei unterstützen. Das ist dann aber anders auch kaum denkbar, da die Gesellschaft als Veranstalter der Briefwahl schon im eigenen Interesse Formulare und/oder einen Internetdialog zur Verfügung stellen wird, um sich nicht mit selbst gestalteten Briefwahlstimmen der Aktionäre auseinandersetzen zu müssen.

Empfehlung zur Interaktion zwischen HV und anderen Organen

Problematischer als die Empfehlungen zum Ablauf der HV ist in der Praxis eine Empfehlung zur Interaktion zwischen HV und Aufsichtsrat: Der Aufsichtsrat soll die HV über aufgetretene Interessenkonflikte und deren Behandlung informieren (Ziff. 5.5.3). Wegen Nichtbeachtung dieser Empfehlung wurden mehrfach erfolgreich HV-Beschlüsse angefochten (siehe unten).

Anregungen zum Ablauf der HV

Neben den Empfehlungen enthält der Kodex auch einzelne Anregungen zum Ablauf der HV. Hervorzuheben ist die Anregung, eine ordentliche HV innerhalb von vier bis sechs Stunden durchzuführen (Ziff. 2.2.4). Bedauerlicherweise genügt zahlreichen Gesellschaften dieser Zeitrahmen nicht. Da es sich aber „nur“ um eine Anregung handelt, bleibt dies letztlich ohne Konsequenzen und löst insbesondere keine Erklärungspflicht aus. Angeregt wird außerdem auch eine Internetübertragung der HV (Ziff. 2.3.4).

In bestimmten Konstellationen führen Fehler im Umgang mit dem Kodex zur Anfechtbarkeit von HV-Beschlüssen. Foto: Thorben Wengert – Pixelio

Anfechtungsrisiken bei Kodexverstößen?

Außer durch Empfehlungen zum Ablauf der HV hat der Kodex auch auf ganz andere, zunächst überraschende Weise indirekte Auswirkungen auf die HV: In bestimmten Konstellationen führen Fehler im Umgang mit dem Kodex zur Anfechtbarkeit von HV-Beschlüssen.

Fehlende und fehlerhafte Entsprechenserklärungen

Geben Vorstand und Aufsichtsrat entgegen § 161 AktG keine Entsprechenserklärung ab, stellt dies eine Pflichtverletzung dar, auf die eine Anfechtung der Entlastungsbeschlüsse gestützt werden kann.

Auch auf eine nicht ordnungsgemäß erklärte Nichtbefolgung einer Kodexempfehlung kann – so der Bundesgerichtshof – eine Anfechtung der Entlastungsbeschlüsse gestützt werden. Formal wird die Anfechtungsfolge durch die fehlerhafte (gesetzlich vorgesehene) Entsprechenserklärung ausgelöst, nicht durch die Nichtbeachtung der Empfehlung. Auch dies kann aber nur bei einer Unrichtigkeit der Entsprechenserklärung in einem „nicht unwesentlichen“ Punkt gelten (BGH ZIP 2009, 2051, 2053), nicht bei reinen Bagatellverstößen. In den beiden bislang vorliegenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs wurde die Anfechtung auf die – wichtige, aber inhaltlich leider nur schwach konturierte – Empfehlung zu einem Bericht über aufgetretene Interessenkonflikte im Aufsichtsrat und deren Behandlung gestützt (s.o.).

„Fehlerhafte“ Wahlvorschläge

Auch Wahlbeschlüsse der HV sollen bei nicht offengelegten Kodexverstößen anfechtbar sein, etwa wenn eine Altersgrenze für den Aufsichtsrat bestimmt ist (Ziff. 5.4.1 Abs. 2) und der Aufsichtsrat diese bei seinem Wahlvorschlag nicht berücksichtigt, ohne dies offenzulegen (vgl. OLG München ZIP 2009, 133 ff.). Die Anfechtbarkeit der Aufsichtsratswahl soll aus der Mangelhaftigkeit des Wahlvorschlags des Aufsichtsrats folgen, der unter dem Gesichtspunkt des „Vertrauensschutzes der Aktionäre“ unwirksam sei. Ähnlich könnte argumentiert werden bei der Nichtbefolgung anderer selbstgesetzter Ziele für die Zusammensetzung, wie etwa der Diversity (Ziff. 5.4.1 Absatz 2). Selbst eine – für jedermann erkennbare, aber nicht formal offengelegte – Besetzung des Aufsichtsrats mit mehreren nicht unabhängigen Kandidaten soll für eine Wahlanfechtung genügen (LG Hannover ZIP 2010, 833 ff.).

Diese Ansätze stellen die Form über den Inhalt und sind im Ergebnis nicht überzeugend. Das fortgeschrittene Alter des Kandidaten und die besondere Beziehung zum Hauptaktionär waren in den entschiedenen Fällen bekannt oder zumindest leicht erkennbar. Trotzdem ist für die Praxis in solchen Fällen zur Sorgfalt zu raten. Bis zu einer endgültigen Klärung der Rechtslage sollte entweder eine Abweichung erklärt oder die selbstgesetzte Zielsetzung (Altersgrenze, Frauenanteil, Unabhängigkeit etc.) rechtzeitig geändert werden.

Fazit

Die Bedeutung des Kodex für die HV darf nicht unterschätzt werden, insbesondere das Risiko einer Beschlussanfechtung bei fehlerhaften oder nicht aktualisierten Entsprechenserklärungen ist ernst zu nehmen. Für die Weiterentwicklung des Kodex durch die Kommission bleibt zu hoffen, dass mehrdeutige Formulierungen und Auslegungszweifel möglichst vermieden werden können. Bei der gebotenen sprachlichen Knappheit der Kodexempfehlungen wird eine solche Eindeutigkeit aber kaum zu erreichen sein. „Kodexverstöße“ sind daher kein geeigneter Anknüpfungspunkt für Beschlussmängelklagen. Eine gesetzliche Regelung in diesem Sinne wäre sehr wünschenswert, etwa im Zusammenhang mit der mehrfach aus guten Gründen geforderten stärkeren gesetzlichen Regulierung der Kommissionsarbeit.

 

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