Spätestens im Januar dieses Jahres sind die meisten der Daueroptimisten bei Amazon ausgestiegen. Die Quasi-Gewinnwarnung, daß Amazon trotz eines Rekordumsatzes im Weihnachtsgeschäft den Schuldenberg weiter auftürmen würde, mußte als letztes, deutliches Warnzeichen gesehen werden. Auf Grund von erhöhten Werbeaufwendungen, Abschreibungen sowie Lagerhaltungskosten mußte das Erreichen der Gewinnschwelle einmal mehr auf unbestimmte Zeit in die Zukunft verschoben werden.
Seitdem stehen mehr denn je unbeantwortete Fragen im Raum: Wenn schon nicht im Umfeld dieses Rekord-Weihnachtsgeschäfts, wann sonst kann überhaupt jemals mit Gewinnen gerechnet werden?

Nichtsdestotrotz haben zwei der renommiertesten Internet-Analysten in den USA, Morgen Stanleys Mary Meeker und Merrill Lynchs Henry Blodget, an Amazon als Blue Chip hartnäckig festgehalten und die Aktien noch vor 14 Tagen zum Kauf empfohlen.

Am Freitag dagegen lauteten die Kommentare dagegen ganz anders: Amazon könne die Tatsache nicht länger vertuschen, daß die Verkäufe in den neuen Kategorien (Haus & Garten, Spielwaren etc.) zu langsam wachsen, als daß diese den Verfall der ohnehin niedrigen Margen bei Büchern und CDs würden kompensieren können. Dazu kommen die obligatorisch extrem hohen Marketingausgaben.

Lehman Brothers Anleihen-Spezialist Ravi Suria setzte mit seinen Kritiken noch eins drauf: Investoren sollten die Wandelanleihen des Retailers meiden, Moodys hatte ohnehin nur ein Caa3 für Amazon übrig, zwei Stufen über der schlechtesten Wertung. Die Unfähigkeit des Unternehmens, Gewinne zu erzielen, manifestiere sich mehr und mehr in den Bilanzen. Dies zusammengenommen mit dem schlechten Kapital-Management und dem negativen Cash Flow seien Faktoren, die unzählige Retailer haben bankrott gehen lassen. Im Best Case-Szenario werde Amazon die Gewinnschwelle im 4. Quartal 2001 erreichen. Zu spät vielleicht: Amazon habe derzeit 1,08 Mrd. US-$ an Geldreserven, doch werden pro Monat 116 Mio. US-$ davon verbraten. Möglich also, daß dem Unternehmen binnen 9 bis 12 Monaten das Geld ausgehe – noch bevor jemals ein Gewinn angefallen wäre.

Das Resultat war, daß der Aktienkurs von Amazon um rund 20 % einbrach. Das Allzeithoch vom 9. Dezember – damals noch in freudiger Erwartung der „Gewinne“ aus dem bevorstehenden Weihnachtsgeschäft – könnte seinem Namen alle Ehre machen. Andere Unternehmen aus dem B2C-Sektor wie eBay oder Priceline wurden vom Sinkflug des einstigen Highflyers gleichermaßen mit nach unten gerissen, konnten sich aber von den Tagestiefs wieder einigermaßen erholen.

Ohne die beiden Dauer-Befürworter Meeker und Blodget dürfte es Amazon noch schwerer als ohnehin haben. Nach den schlechten Quartalszahlen war es nur eine Frage der Zeit, wann das goldene Kalb von den Analysten zum Schlachten geführt wird. Bislang war nur niemand aus der Analystengilde dazu bereit, wohl wissend, daß dies auch Auswirkungen auf den Internetsektor insgesamt haben muß. Um so peinlicher, daß immer neue Kaufempfehlungen nachgeschoben wurden, um das Unvermeidbare aufzuschieben.

Mit einiger Sicherheit läßt sich voraussagen, daß in den nächsten Tagen Analysten von US-Investmenthäusern, die bislang bei Amazon den rechtzeitigen Exit verpaßt haben, mit Kaufempfehlungen aufwarten werden, die den Kurs kurzfristig auch wieder 10 bis 20 % steigen lassen könnten. Die Argumente werden sich allerdings auf die weichen Kriterien beschränken müssen: Markenname, steigende Kundenzahl, Marktstellung und natürlich das derzeitig „niedrige“ Kursniveau, das als Kaufrechtfertigung wird herhalten müssen. Die Entwicklung bei Amazon sollte Anlegern einmal mehr klar machen, daß nicht jeder, der einem kurzfristigen Trend hinterherläuft, an der Börse auch wirklich Geld verdient.

Die GoingPublic-Kolumne erscheint börsentäglich in Zusammenarbeit mit dpa-AFX.

 

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