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Digitalisierung und die Berücksichtigung sämtlicher Buchstaben im Begriff ESG machen auch vor der Reportingbranche nicht Halt. Ganz neu etwa: Barrierefreiheit von Geschäftsberichten. Das GoingPublic Magazin im Gespräch mit Olivier Neidhart und Daniel Schön.

GoingPublic: Herr Neidhart, Herr Schön, zunächst einmal als Rückblick zu unserem Gespräch vor zwei Jahren – damals waren wir ja noch im initialen Coronajahr: Welche Trends mit Auswirkungen auf Ihre Branche, also Reporting und alles drumherum, haben sich verstetigt und welche sind ggf. Eintagsfliegen?

Neidhart: Digitalisierung und ganz besonders ESG, definitiv – das Thema ist Jahr für Jahr größer und bedeutender geworden. Daran führt heute kein Weg mehr vorbei. Der entscheidende Punkt ist doch, dass ESG in den letzten drei Jahren von der Kür zur Pflicht geworden ist.

Schön: Vor allem schienen es damals nur schmückende Worte, heute muss ESG mit konkreten Zahlen und Nachweisen belegt sein. Natürlich verändert es die Anforderungen an das Reporting: ESG muss messbar sein. Ein weiterer Punkt – sicher auch im Zusammenhang mit ESG – ist die Barriere­freiheit, auch von Geschäfts­berichten, die heute regulatorisch eingefordert wird und nicht mehr nur rein ­freiwillig ist. Die Anfor­derungen werden zunehmend konkreter.

Olivier Neidhart verantwortet als Verwal­tungs­ratspräsident die Internationali­sierung der Neidhart + Schön Group AG mit ihrer Tochtergesellschaft mms solutions (mms).

GoingPublic: Das Thema „Digitalisierung“ möchte ich in dieser Hinsicht auch auf seine ­Begrifflichkeit hin abklopfen: Seit Ausbruch der Coronakrise müsse alles mehr digitalisiert sein oder werden. Ist das eine nur deutsche Lamoisie – in unserem Fall in Deutschland auf mauem Niveau! – oder in der Schweiz genauso Gegenstand von ­Änderungsdruck?

Neidhart: Digitalisierung ist relevant und der Veränderungsdruck ist da, Corona hat ihn noch verstärkt. Er betrifft weder Deutschland noch die Schweiz allein, ­sondern ist überall zutage getreten. Wo die Unternehmen dabei ansetzen, ist ein anderes Thema; es kommt auf die jeweilige Branche und Firma an.

GoingPublic: Reden wir nur darüber oder hat sich hier in den letzten Jahren tatsächlich etwas getan?

Neidhart: In der Tat wird sehr viel über ­Digitalisierung gesprochen. In der konkreten Umsetzung ist die Veränderungs­geschwindigkeit doch etwas geringer. Wenn ich unser Metier nehme: Eine ­sonderlich kräftige Entwicklung Richtung Onlinereporting sehen wir noch nicht. Die technischen Möglichkeiten schreiten zwar laufend voran, trotzdem gibt es keine deutliche Zunahme. Die Vorteile von ­Online scheinen noch nicht angekommen zu sein.

Daniel Schön (M.A. HSG) ist Business Development Manager bei mms solutions und Repräsentant der nextGen der Neidhart + Schön Group.

GoingPublic: Beim vergangenen Gespräch hatten wir auch kurz XBRL angeschnitten – passend zur Digitalisierung im Reporting. Was hat sich hierbei getan?

Neidhart: In einigen europäischen Ländern müssen die Reports seit zwei Jahren verpflichtend maschinenlesbar aufbereitet werden, in anderen erst seit einem Jahr. Neu hinzu kommt das Blocktagging, also das Tagging des gesamten Anhangs – das spürt man jetzt schon deutlich mit Blick auf die nächste Berichtssaison. Es ist aber wie bei der XBRL-Einführung seinerzeit: Einige Punkte der praktischen Umsetzung sind nicht 100%ig klar, was bei allen ­Akteuren zu Unsicherheiten und Stress bei der Erstellung von Geschäftsberichten führt.

GoingPublic: Barrierefreiheit und damit ein Nebenast der Digitalisierung im Reporting – mithin Teil des „S“ im Kürzel ESG – ist mittlerweile regulatorische Vorgabe. Wer mag uns und Leser:innen in gebotener Verkürzung den aktuellen Stand erläutern?

Schön: Geschäftsberichte sollen möglichst allen Interessierten zugänglich sein, auch z.B. Personen mit reduziertem Sehver­mögen, wobei Einschränkungen auf vielfältige Art und Weise bestehen können. Wir sprechen laut Studie immerhin von ca. 20% der Bevölkerung mit Einschränkungen irgendeiner Art. Bei online verfüg­baren Reports bedeutet dies, dass Lesbarkeit und Navigation sichergestellt werden müssen. Inklusion betrifft das „S“ im Begriff ESG, und verschiedene Anspruchsgruppen achten inzwischen darauf, welches Unternehmen soziale Verantwortung übernimmt. Man darf nicht außer Acht lassen, dass diese Übernahme sozialer Verantwortung immer stärker auch auf die Reputation eines Unternehmens einzahlt. Damit kann sie Teil der Unternehmensstrategie werden. Im Weiteren mag Google Barrierefreiheit und belohnt solche Seiten durch eine höhere Bewertung und bessere Auffindbarkeit, was durchaus wichtig sein kann.

GoingPublic: Nun betrifft Barrierefreiheit in Relation gesehen wenige Prozente der gesamten Stakeholderschaft. Strahlt eine gute Umsetzung hierbei ggf. tatsächlich auch eine Botschaft aus an alle, Stichwort: Respekt für alle und vor allen?

Schön: Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass man nie genau weiß, wer betroffen ist: Das können Mitarbeitende sein, aber eben auch Analyst:innen oder Investor:innen. Wir alle werden älter, Einschränkungen in der Sehkraft nehmen künftig eher zu, wenn die Lebenserwartung steigt. Ich ­halte das Thema Barrierefreiheit daher für eine Investition in die Zukunft.

Neidhart: Ich denke, das Thema unterschätzen die meisten noch. Selbst wenn ­lediglich ein kleiner Prozentsatz betroffen ist, sind das allein in Deutschland Millionen Einwohner.

GoingPublic: Was heißt barrierefrei bei Geschäfts­berichten konkret? Haben Sie auch ein oder zwei nennenswerte Beispiele aus der Praxis bzw. Umsetzung zur Hand?

Schön: Für visuell Eingeschränkte bedeutet es, dass jedes Wort einzeln vorgelesen werden muss. Das verändert natürlich den Anspruch daran, wie ein Geschäfts­bericht strukturell aufgebaut sein muss. Inzwischen gibt es Apps als Screenreader, die recht gut geeignet sind für das Vorlesen von Text. Denken Sie aber an Tabellen – die muss man logisch aufsetzen, damit sie vorgelesen noch Sinn ergeben. Bilder sind eine weitere Herausforderung: Wie kann man die für Menschen mit Sehbeeinträch­tigungen so gestalten, dass sich der/die Leser:in vorstellen kann, was dort gezeigt wird? Die Lösung ist der sogenannte Alt-Text, also ein Text, der an Bildes statt möglichst anschaulich wiedergibt, was zu sehen ist. Dieser Text muss sozusagen als Alternative für das Bild hinterlegt werden. Videos scheinen vermeintlich geeigneter, aber auch da muss die Botschaft von ­Bildwelten verbal transportiert werden.

GoingPublic: Gibt es konkrete Beispiele von Unternehmen, die sich in diesem Punkt bereits positiv hervorheben?

Schön: Da wäre z.B. die Berner Kantonalbank. Für Deutschland würde ich SAP und die Deutsche Post nennen. Überhaupt sind es häufig Organisationen der öffent­lichen Hand, staatsnahe Firmen oder ­Unternehmen, die einen Schritt voraus sein möchten. Ab 2025 gibt es ein nochmals konkretisiertes Gesetz für Deutschland und die EU, und Abweichungen würden entsprechend sanktioniert werden. Nicht alle Branchen sind betroffen, aber doch ­einige. Nur sehr kleine Unternehmen sind von dieser Regulatorik ausgenommen.

Neidhart: Da stellt sich die Frage: Wie weit kann ein kleineres Unternehmen hierbei mitgehen, ohne dass die Kosten explodieren? Daher hat man eine gewisse Grenze gezogen.

Schön: Gerade die Finanzbranche ist ­extrem stark betroffen, denn für das ­weitverbreitete Onlinebanking gibt es gar keine andere Möglichkeit, als in puncto Barrierefreiheit voranzugehen.

GoingPublic: Welche Regularien in jedweder Repor­ting­richtung sind noch zu erwarten?

Neidhart: Das ist unheimlich schwer ­abzusehen. Vor fünf bis zehn Jahren hätten wir den heutigen Status quo niemals annähernd vorhergesagt – schauen Sie einfach in unsere Gespräche aus früheren Jahren. Die Ansprüche an Transparenz und Vereinheitlichung werden wohl auch künftig immer weiter zunehmen.

Schön: Nichtfinanzielle Zahlen ESG ­betreffend sind inzwischen Pflicht. Auch das hätten wir vor einem Jahrzehnt nicht prognostiziert – und da dürfte noch mehr kommen.

Neidhart: Eine Anekdote zum Abschluss: Als vor ich Kurzem auf einer Tagung in ­einer Pause Richtung Bad unterwegs war, lautete der erste Eingang, auf den ich traf, „Divers“. Das sagt mir, dass wir uns nur bestmöglich, aber nicht umfassend auf die Zukunft vorbereiten können.

GoingPublic: Meine Herren, ganz herzlichen Dank an Sie beide!

Das Interview führte Falko Bozicevic.

Autor/Autorin

Falko Bozicevic

Falko Bozicevic ist Mitglied des Redaktionsteams des GoingPublic Magazins sowie verantwortlich für das Portal BondGuide.