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Ein Interview mit Dr. Joachim Fleïng, Head of Investor Relations beim Beteiligungsunternehmen 3U HOLDING AG, und Patrick Sutter, Senior Berater bei der Kommunikationsagentur relatio PR, über die Vor- und Nachteile der virtuellen Hauptversammlung gegenüber einer Präsenzversammlung der Aktionäre.

GoingPublic: Die Hauptversammlung ist das entscheidende Forum der Aktionärsdemokratie. Die Eigentümer informieren sich über den Gang der Geschäfte, beschließen über Gewinnverwendung, Kapitalmaßnahmen und wählen ihre Vertreter. Wie stellt sich dieses Ereignis aus Sicht der Gesellschaft dar?

Dr. Joachim Fleïng: Wir informieren unsere Aktionäre jederzeit ausführlich und transparent. Ein zentrales Format dafür ist die Hauptversammlung. Die 3U ist eine diversifizierte Beteiligungsholding und ein Small-Cap-Wert an der Börse. Gerade deshalb ist es uns wichtig, die Rechenschaftspflicht als Chance zu begreifen und mit den Aktionären über die Pflichtberichte hinaus die Chancen und Risiken, die Strategie, Aktivitäten und Ergebnisse zu diskutieren. Eine HV sollte also kein lästiges Pflichtprogramm sein, sondern als kommunikative IR-Chance betrachtet werden. Die IR steht schließlich dafür, das Informations- und Schätzrisiko zu senken und dadurch zu einer fairen Marktbewertung beizutragen.

GoingPublic: In den vergangenen drei Jahren wurde im Zuge der Pandemiebekämpfung die Möglichkeit geschaffen und durchweg genutzt, Hauptversammlungen nicht im Saal, sondern auf dem Wege elektronischer Kommunikation, nämlich als virtuelle HV (vHV) abzuhalten. Ist dann eine transparente Kommunikation schwieriger?

Patrick Sutter: Die Pandemie sorgte in vielen Bereichen für einen Digitalisierungsschub. Das hatte auch große Auswirkungen auf die IR-Arbeit. Dennoch ändert sich die Prämisse nicht: Die Transparenz für die Aktionäre ist und bleibt ein wichtiges Ziel. Das heißt, auch ohne eine örtliche Präsenz müssen nicht nur alle Vorgaben eingehalten werden, sondern es dürfen keine Nachteile für das Unternehmen oder die Kapitalanleger entstehen. Und je nach Gestaltung der virtuellen Hauptversammlung kann eine Gesellschaft transparent kommunizieren.

Dr. Joachim Fleïng ist seit 1998 im Bereich Investor Relations tätig, seit 2019 ist er Head of Investor Relations der 3U HOLDING AG. Das im Prime Standard gelistete Beteiligungsunternehmen ist in den Segmenten Informations- und Telekommunikationstechnik (ITK), erneuerbare Energien und Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik (SHK) tätig. 2002/02 war Dr. Fleïng Mitglied im Vorstand des DIRK.

Dr. Fleïng: Wie steht es denn generell um die Teilhabe der Anleger an den Diskussionen im und um das Unternehmen? Die institutionellen Großaktionäre lassen sich inzwischen durch Proxy-Firmen vertreten, die das Informationsrecht ihrer Auftraggeber im Vorfeld durch standardisierte Fragebögen wahrnehmen und ebenfalls standardisierte Abstimmungsempfehlungen aussprechen. Institutionelle Investoren suchen und finden das Gehör des Managements im regelmäßigen, direkten Kontakt abseits des übrigen Aktionariats, teilweise üben sie über AR-Mandate unmittelbar Kontrolle über das Unternehmen aus. Die HV bietet den nicht derart bevorzugten Aktionären Gelegenheit, diese Informationsasymmetrie zumindest punktuell auszugleichen. Daher ist die HV auch zum Schutz der Kleinaktionäre wichtig – gerade auch im virtuellen Format.

GoingPublic: Bei der Diskussion um Chancen und Risiken der vHV spielt das Informations- und Auskunftsrecht der Aktionäre eine zentrale Rolle. Es geht also insbesondere um die Frage, auf welche Weise die Kommunikation, der Austausch mit den Aktionären organisiert wird. Wie sehen Sie die Unterschiede zur Präsenz-HV?

Dr. Fleïng: Zweifelsohne agieren Großkonzerne unter anderen Voraussetzungen als ein Small Cap wie wir. Aber lassen Sie es mich einmal überspitzt formulieren: Die Präsenz-HV ist eben keine demokratische, sondern eine elitäre Veranstaltung. Vor allem bei kleineren Gesellschaften wie bei uns reisten früher nur sehr wenige Aktionäre zu einer Präsenz-HV an. Warum? Anders als Pensionäre und Profis kann sich die Mehrzahl der Anleger die Tagesreise zur Präsenz-HV gar nicht erlauben. So bleiben die Verhandlungen auf der Präsenz-HV im stillen Kämmerlein. Kein Wunder also, dass die Profis, die Vereinigungen, virtuelle HVs ablehnen. Dagegen bietet die virtuelle HV unbegrenzten Zutritt für alle. Stellungnahmen und Fragen auf dem Podium vorzutragen hat eine höhere Hemmschwelle, als sich auf elektronischem Wege mitzuteilen. Selbstverständlich ist der informelle, zwischenmenschliche Kontakt am Buffet und auf dem Gang im virtuellen Format nicht möglich, und das mag ein Verlust sein – dem stehen aber die belastbare und nachhaltige Information und der Austausch im elektronischen Medium gegenüber. Geht man einen Schritt weiter, dann sind Fragen und Antworten nicht nur für die bestehenden Aktionäre von Interesse. Deren Informationsrecht steht ja zu Recht im Kern. Aber auch interessierte, potenzielle Aktionäre können für ihre Investitionsentscheidung von transparenter, nachprüfbarer Debatte profitieren.

Patrick Sutter ist Senior Berater bei relatio PR. Der Diplom-Volkswirt und ehemalige Finanzjournalist ist spezialisiert auf Finanzkommunikation und berät mittelständische Unternehmen sowie börsennotierte Konzerne. Die 1994 gegründete relatio PR GmbH ist eine Kommunikationsagentur mit den Schwerpunkten Finanz-PR, Investor Relations, HR, B2B und Start-up-Kommunikation.

GoingPublic: Der Gesetzgeber hat nun detaillierte Vorgaben gemacht, auf welche Weise die Aktionärsrechte auf künftigen vHV gewahrt werden sollen. Wie bewerten Sie diese aktuellen Entwicklungen?

Sutter: Es sind einige Punkte hervorzuheben. Der Bericht des Vorstands ist bereits vor der Versammlung den Aktionären zugänglich zu machen. Alle Aktionäre erhalten die Möglichkeit, Stellungnahmen im Vorfeld der Versammlung einzureichen, und diese muss die Gesellschaft allen Aktionären bis spätestens vier Tage vor der Versammlung zugänglich machen. Ganz wichtig zudem: Die Aktionäre können künftig während der virtuellen Hauptversammlung Nachfragen zu sämtlichen Antworten stellen. Bei der Kritik an der vHV geht es vor allem um das Fragerecht. Im neuen Gesetz sind nun Rückfragen zu bereits gestellten Fragen möglich. Damit kann auch eine lebhaftere Diskussion stattfinden – wobei abzuwarten bleibt, wie der „virtuelle Wortmeldetisch“ angenommen wird.

Dr. Fleïng: Die technischen Herausforderungen, die sich durch die neue Gesetzeslage ergeben, werden wir noch detailliert betrachten. Der Aufwand für die Beschäftigten, die im Backoffice zur Verfügung stehen, wird jedenfalls deutlich intensiver sein als bei der bisherigen vHV – aber daran wird es nicht scheitern. Und an der Dialogbereitschaft werden wir es sicher nicht mangeln lassen.

GoingPublic: Die 3U HOLDING AG hat für ihren Ansatz, einen Dialog mit den Aktionären auch im Umfeld einer vHV zu unterhalten, reichlich positives Feedback erhalten. Was waren Ihre Überlegungen im Vorfeld der Hauptversammlung?

Dr. Fleïng: Ein wichtiger Aspekt ist selbstverständlich die Betrachtung aus rechtlicher Sicht, und für die Juristen steht das Anfechtungsrisiko im Vordergrund. Erhöht die schriftliche, öffentliche und langfristige Bereitstellung von Fragen und Antworten dieses Risiko? Meine ungeschützte, persönliche Meinung dazu lautet: im Allgemeinen nicht. Die Zahl erpresserischer Klagen tendiert seit Längerem gegen null. Die jeweilige Lage des Unternehmens spielt eine entscheidende Rolle, und kritische Phasen und heikle Beschlussvorlagen müssen anders betrachtet werden als der normale Lauf der Dinge. Auch bei sorgfältiger Abwägung geht es dann um die prinzipielle Bereitschaft, alle Interessierten an Lage und Aussichten des Unternehmens partizipieren zu lassen.

GoingPublic: Wie wurde Ihr Ansatz von den Aktionären dann tatsächlich wahrgenommen und genutzt?

Dr. Fleïng: Viele Unternehmen befürchten, von einer Flut unqualifizierter Fragen überschwemmt zu werden. Das konnten wir überhaupt nicht feststellen. Die Rede des Vorstands war im Wortlaut und mit den Präsentationsfolien auf der Internetseite verfügbar. Daraufhin gab es mehrere Runden von Fragen und Nachfragen seitens der Aktionäre. Sie wurden von der Verwaltung bereits im Vorfeld der vHV beantwortet und im Internet öffentlich und dauerhaft dokumentiert. Das gilt auch für einige wenige Fragen, die sich nicht wirklich auf Geschäftsverlauf und Strategie bezogen und die wir mit einem Augenzwinkern beantworteten. Mitschnitt von Rede und mündlicher Fragenbeantwortung während der vHV waren und sind auf unserer Internetseite und auf YouTube verfügbar. Diese Praxis werden wir nach Möglichkeit auch künftig aufrechterhalten. Schließlich lassen die Aktionärsfragen auch erkennen, wo eventuell noch Verständnislücken, Defizite in der Kommunikation bestehen. Sie transparent, ausführlich und dauerhaft zu schließen ist eine wichtige Aufgabe der Gesellschaft.

Quelle: relatioPR

GoingPublic: Das klingt eigentlich selbstverständlich. Wie gehen andere Unternehmen an diesen Aspekt der HV-Vorbereitung heran?

Sutter: Wir haben diesbezüglich die 40 DAX-Unternehmen analysiert. Es zeigt sich, dass die Unternehmen das unterschiedlich handhaben, etwa was die Verfügbarkeit von Videos oder die Rede des Vorstands betrifft. Die Mehrheit der Konzerne stellt die gesamte Rede als PDF oder im Videoformat zur Verfügung. Es gibt aber Unternehmen, die nur kurze Videoausschnitte online stellen oder eben nur die Pflichtinformationen bereithalten. Unsere Untersuchung macht deutlich, dass die Informationstiefe sehr unterschiedlich ist. Einige Inhalte sind im Nachgang der HV online verfügbar, aber in Sachen Transparenz besteht hier noch Verbesserungspotenzial. Positiv ist uns beispielsweise die Deutsche Post aufgefallen. Auf der HV-Website erhält der Aktionär viele Informationen, wie die Rede des Vorstands als PDF inkl. der Präsentation, Videos, Fotos zur HV und FAQ mit allgemeinen Fragen zur HV. Jedoch sind die Fragen der Aktionäre und die Antworten bei keinem der 40 DAX-Unternehmen später noch verfügbar.

GoingPublic: Spielen dabei Bedenken der Vorstände und Aufsichtsräte eine Rolle? Fürchtet man rechtliche Risiken?

Sutter: Ja, sicherlich. Insbesondere große Unternehmen möchten hier keine Rechtsrisiken eingehen. Aus Kommunikationssicht ist das für die Aktionäre ein hervorragender Service, aber bei solchen Entscheidungen sind Rechtsanwälte gefragt.

GoingPublic: Was planen Sie für die Hauptversammlung 2023?

Dr. Fleïng: Es gibt dazu noch keine Beschlusslage. Wir werden für beide Formate vorbereitet sein und die jeweils größtmögliche Transparenz und Kommunikation anstreben. In jedem Fall werden wir im Sinne einer hohen Transparenz die Dokumente online verfügbar halten. Das gilt auch für die Antworten zu den Fragen.

Vielen Dank für das Interview.

www.relatio-pr.de
www.3u.net