Bildnachweis: Adobe Stock – Gorodenkoff.

Darauf, dass die virtuelle Hauptversammlung (vHV) für eine massive Polarisierung der Interessengruppen gesorgt hat, wollen wir nun nicht mehr detailliert eingehen, nur so weit: Die DVFA-Monatsfrage im Juni zeigte, dass die Investment Professionals sich zu über 90% die hybride HV wünschen. Im Gegensatz ergaben eine Umfrage eines IR-Portals wie auch Auswertungen des DIRK Zustimmungsraten von über 90% für die vHV. So weit, so uneins.

Um es vorwegzunehmen:

Ja, es wird künftig erstmals eine gesetzlich verankerte und nicht auf einer Notfallgesetzgebung fußende Möglichkeit der virtuellen HV (vHV) geben.

Ja, die Anforderungen werden höher.

Doch wird die neue vHV ein durchschlagender Erfolg? Diese Frage lässt sich noch nicht beantworten.

Diesen und weitere Artikel zum Thema „Hauptversammlung“ finden Sie in der aktuellen Ausgabe des HV Magazins – JETZT KOSTENFREI DOWNLOADEN!

In der Anhörung im Rechtsausschuss am 22. Juni, die öffentlich übertragen wurde (es gibt sie also, die Digitalisierung!), war diese Polarisierung erneut deutlich wahrnehmbar in den Statements der Sachverständigen. Auch wenn diese sich mehrheitlich für Nachbesserungen aussprachen, dürften die von den Emittenten erhofften Anpassungen nur teilweise umgesetzt werden. Das Gesetzgebungsverfahren liegt aktuell im Zeitplan und sollte vor der parlamentarischen Sommerpause abgeschlossen sein.1

Virtuelle Hauptversammlungen können nur noch bis Ende August auf Basis der aktuellen Coronagesetzgebung durchgeführt werden. Die sich daraus ergebende weitgehende Anfechtungsfreiheit ist somit ab dem 1. September vorbei. Da die Gesetzgebung für die vHV noch nicht final ist, werden nach unserer Einschätzung im Restjahr 2022 Präsenzhauptversammlungen dominieren.

Am Ende zeigt sich das altbekannte Bild, wie es die einzige Präsenz-HV eines DAX40-Werts mit traditionell größerer Teilnehmerzahl gezeigt hat: Alle Diskutanten müssen anreisen und mit steigender Dauer der Debatte sinkt das inhaltliche Niveau deutlich. Womit wir wieder beim Ausgangspunkt der angestoßenen Diskussion um die Modernisierung einer nicht mehr zeitgemäßen Veranstaltung sind. Die Herausforderungen des RegE sind lösbar.

Ablauf der neuen vHV

Der Schwerpunkt soll nun auf der Vorbereitung liegen und sich die Versammlung so „zeiteffizienter“ gestalten lassen. Zwei Gesellschaften haben diese Option bereits ausprobiert, gemäß § 131 Abs. 1c AktG-E die Antworten zu den eingereichten Fragen vorab veröffentlicht und in der HV hierauf verwiesen, sodass man sich gleich mit den Nachfragen befassen konnte. Vielfach werden hierin aber Rechtsrisiken angemerkt.

Liverede/-Fragestellung

Nach der Eröffnung und den Ausführungen von Vorstand und Aufsichtsrat folgt die bekannte Debatte. Der Gesetzgeber sieht hierbei drei Kategorien vor: Nachfragen, Fragen zu kurzfristig bekannt gewordenen Aspekten und sonstige Fragen zur TO, sofern zeitlich möglich.

Digitaler Wortmeldetisch

Dies bedarf einerseits eines Prozederes, um die Wortmeldungen aufzunehmen und zu strukturieren, und andererseits eines Prozesses, um die technischen Anforderungen für die Zwei-Wege-Kommunikation zu prüfen. Hierbei kommt dem Versammlungsleiter eine zentrale Rolle zu. Einerseits geht es darum, dass die verschiedenen Aktionärsgruppen gleichwertig an der HV partizipieren können, und andererseits gilt es, nur so viele Wortmeldungen anzunehmen, dass die Versammlung in angemessener Zeit rechtssicher geschlossen und die Beschlüsse gefasst werden können. Problemstellungen, die aus der Präsenz-HV bekannt sind, wo sich am Wortmeldetisch auch mal eine Schlange bildet und die Rednerliste geschlossen werden muss, lassen sich auch im Portal abbilden. Wegen des interaktiven Verlaufs ist der Notar mutmaßlich technisch einzubinden, da er neben allgemeinen Widersprüchen auch als nicht-beantwortet gerügte Fragen aufnehmen können muss.

Anträge – Zufallsmehrheiten

Neben vorab anzukündigenden Gegenanträgen/Wahlvorschlägen, können diese ad hoc gestellt werden. Hinzu kommen Geschäftsordnungs- oder Sonderprüfungsanträge. Wir bereiten uns mit unseren Kunden bereits seit mehreren Jahren hierauf vor, sodass es gute technische und organisatorische Hilfsmittel gibt, mit Anträgen in der HV umzugehen und Zufallsmehrheiten zu vermeiden. Dies lässt sich ohne Weiteres auf die vHV übertragen.

Teilnahme der Aufsichtsräte

Der RegE sieht für die Aufsichtsräte eine Teilnahme am Versammlungsort vor. Allerdings kann die Teilnahme auch im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen, sofern die Satzung dies vorsieht. Drei Jahre vHV haben gezeigt, dass ein schlankes Bühnendesign eine bewegte Kameraführung zulässt und sich die zugeschalteten Personen gut in einer Übersicht einblenden lassen. Und gerade bei international besetzten Gremien ist von Vorteil, dass die Terminfindung für die HV einfacher ist und sich Aufwendungen für die An- und Abreise deutlich reduzieren (vgl. §118 Abs. 3 AktG und §118a Abs. 2 AktG-E).

Mit dem RegE hat sich die Bundesregierung für die neue vHV fast gänzlich aus dem Fundus des deutlich reformbedürftigen Formats der Präsenz-HV bedient, das seit Jahrzehnten bestens bekannt ist und seit Langem kritisiert wird – denn der mögliche Missbrauch der Rechte von ein paar Aktionären, die in der Regel nur wenige Aktien vertreten, zwingt die Emittenten dazu, bei der Gestaltung der HV Rechtsrisiken weitestmöglich auszuschließen.

Der gewünschte Dialog und der Austausch von Argumenten sind somit gehemmt. Hinzu kommt, dass gerade internationale Investoren während der HV nicht aktiv dabei sind, sondern ihre Entscheidung weit im Vorfeld getroffen haben.

Die HV ist ein wesentliches Organ der Gesellschaft und ihr werden mehr und mehr Rechte und Pflichten zugewiesen. Es gilt, das Wesen der HV mit den Interessengruppen neu zu definieren und daraufhin ein einheitliches Regelwerk für die Präsenz-HV und die vHV gleichermaßen zu erarbeiten. Hierbei muss auch das Beschlussmängelrecht betrachtet werden. Es ist aber noch unklar, wie wir aus dem Dilemma der polarisierten Meinungen der Interessengruppen zur Umsetzung kommen. Erst eine globale Pandemie hat diese Erkenntnis befördert und die vorher bei Emittenten unbeliebten Onlinekomponente zu deren Nummer eins gemacht.

Bis dahin bilden die Präsenz-HV mit der Möglichkeit der Onlineteilnahme sowie die virtuelle HV zwei Alternativen, um in Abwägung gesellschaftlicher Belange einerseits und der pandemischen Entwicklung oder anderer unvorhergesehener Ereignisse andererseits für die nähere Zukunft gerüstet zu sein. Auch wenn Festivals, Konzerte und Großveranstaltungen suggerieren, dass die Pandemie vorbei ist, so erleben wir gerade, dass eine Sommerwelle durchs Land rauscht. Emittenten, die sich frühzeitig für die Abhaltung ihrer HV in Präsenz festlegen, sollten sich daher gedanklich damit beschäftigen, wie eine „neue“ vHV für sie potenziell handhabbar wäre. Die Existenz des künftigen § 118a AktG wird eine „rettende“ Notfallgesetzgebung überflüssig machen.

Um die vHV fortzuentwickeln, müssen wir alle mit den Möglichkeiten Erfahrungen sammeln, die uns der Gesetzgeber einräumt. Es wäre eine vertane Chance, wenn die vHV nach ihrem Anschub durch die Pandemie zukünftig nur in seltenen Fällen genutzt würde.

Technisch sind alle Anforderungen an die „neue“ vHV umsetzbar. Ein Zurück zur Präsenz-HV aus 2019 erscheint aus vielerlei Gründen problematisch. Dazu tragen u.a. Personalengpässe bei – denn nicht nur hoch spezialisierte Stenografen, sondern auch viele andere Dienstleister sind ein rares Gut geworden, wie die Berichterstattung zur Abfertigung an Flughäfen belegt. Auch werden z.B. Transportkosten sich deutlich steigern. Es wird wie so oft auf den Gestaltungswillen der Emittenten ankommen, die die alte Welt hinter sich lassen wollen.

Aber …

… den Mutigen gehört die Zukunft!

1 Ob die Gesetzgebung hinsichtlich des Frageregimes kurzfristig noch Regelungen zu Reihenfolge, Menge und fragebezogenen versammlungsleitenden Maßnahmen aufgenommen hat, war bei Redaktionsschluss nicht absehbar

https://www.computershare.com

Autor/Autorin

Ingo Wolfarth

Ingo Wolfarth ist Key Account Manager und Senior Consultant bei Computershare Deutschland.

Ralf Pickert

Ralf Pickert ist Key Account Manager bei Computershare Deutschland.