Schon an der Universität hatte ich das Gefühl, dass manche Menschen ganz einfach einen anderen Hirnaufbau besitzen als andere. Da war zum Beispiel dieser Ökonomie-Professor, dessen Lebensziel darin bestand, herauszufinden, ob es den Individuen i und j möglich sein könnte, sich innerhalb einer Edgeworth-Box (= zwei ineinander gestülpte Indifferenzkurvensysteme) einvernehmlich über die optimale Verteilung eines vorgegebenen Einkommens zu einigen.

Als dann sogar seine Ehe an diesem Thema zerbrach, weil er der Meinung war, ein Mensch besitze nur eine bestimmte Menge an Liebe, die er eben entweder der Familie oder der Profession widmen könne, fand ich das sehr tragisch. Heute sehe ich das etwas anders. Die Volkswirtschaftslehre kann keine empirischen Aussagen treffen, sondern allerhöchstens aufzeigen, ob und unter welchen Bedingungen bestimmte Szenarien logisch möglich oder eben logisch ausgeschlossen sind. Und hier wurde wenigstens ein Teilproblem im Endeffekt überzeugend gelöst. Eine Ehe mehr oder weniger ist hingegen für die Menschheit egal.

Dass mich an der Börse noch ganz andere Hirnstrukturen erwarten würden, ahnte ich damals noch nicht. Natürlich kannte ich Kostolanys schönen Ausspruch, dass er deswegen so gerne an die Börse gehe, weil er nirgendwo sonst so viel Beschränktheit pro Quadratmeter erlebe wie dort. Aber da kannte ich ja die Elliott-Wellen-Theoretiker noch nicht. Mit einem Leser mache ich mir seit einiger Zeit den Spaß, gleichsam wie Naturforscher den Lauf einiger dieser Exemplare zu verfolgen. Und jedes Mal bin ich aufs Neue verblüfft, wenn er mir deren Ausführungen schickt. Während ich selbst nicht einmal erahne, wie die Aktienkurse morgen, geschweige denn, wie sie in einer Woche stehen, haben diese Leute bereits heute eine feste Vorstellung vom Kursverlauf von heute bis zum Jahr 2013. Hier ein paar Zitate inklusive der Begründung:

„Der Dow Jones Index steht unmittelbar vor dem Ende einer Welle 4 und müsste das Kursziel bei 9.379 Punkten erreichen. Im Anschluss daran sollte er die Wellen 1-2-3-4-5 absolvieren und innerhalb derer bei 5.600 Punkten landen. Die anschließende Kurserholung wird etwas spärlich ausfallen und wohl nur bis kurz über 7000,00 Punkte laufen. Die Kursgewinne werden dann in der Wellenebene a-b-c abgespult und die Welle 4 beenden. Die darauf folgende Welle 5 wird durch die Wellen 1-2-3-4-5 finalisiert und wird Kurse von 5.000 mit sich bringen und sich bis in das Jahr 2010 hinziehen. Die darauf folgende Welle 2 lässt dann wieder steigende Kurse bis 11.000 Punkte zu. Diese Welle startet voraussichtlich gegen Ende 2010 und wird bis 2013 einen 100%igen Kursanstieg mit sich bringen.“

Ist das nicht wunderbar?! Nicht nur das Verhalten eines Menschen, sondern sogar das Zusammenwirken aller Menschen ist durch einfaches Wellenzählen möglich geworden: 1-2-3-4-5, a-b-c-d-e und fertig ist die Zukunft. Ich muss dabei immer an die wunderbare Szene der unsterblichen Verfilmung von Uwe Johnsons Jahrestagen, in der in den Anfangstagen der DDR der alte Tanzschulmeister noch auf französisch zählt: Öng-dö-troa, öng-dö-troa. Eins, zwei – Cha-Cha-Cha.

Warum können wir das menschliche Verhalten nicht auch damit prognostizieren? Eins, zwei – Cha-Cha-Cha! Vielleicht können wir mit diesem Instrumentarium dann sogar die Geheimnisse des Universums lüften? Dazu nehme man eine große Papierrolle, bestreiche die Schuhsohlen mit Farbe – und dann: Ein Schritt mit rechts nach rechts, mit links einen Schritt nach vorne und den Fuß voll belasten, sofort die Belastung wechseln, mit dem linken Fuß ein Seitwärtsschritt nach links, den rechten neben den linken setzen, dann wieder einen Seitwärtsschritt mit links nach links. Und anschließend: Öng-dö-troa, eins, zwei – Cha-Cha-Cha.

Jetzt ein Blick nach unten – und sofort ist alles klar ersichtlich! So lassen sich die Geheimnisse dieser Welt entschlüsseln, nicht nur diejenigen an der Börse.

Bernd Niquet


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