An ESG kommt niemand mehr vorbei

Interview mit Michael Nettersheim, Managing Partner des European Circular Bioeconomy Fund (ECBF)

Bildnachweis: ECBF.

Der ECBF orientiert sich bei seinen Investments an Umwelt- und Sozialstandards sowie Prinzipien verantwortungsvoller Unternehmensführung – den ESG-Kriterien.

 

Plattform Life Sciences: Herr Nettersheim, welche der drei ESG-Dimensionen steht bei Ihren Investmententscheidungen im Vordergrund?

Nettersheim: Ganz klar das „E“. Grundsätzlich unterliegen wir europäischen Rahmenbedingungen – vor allem der EU-Taxonomie-Verordnung. Mit ihr soll der Kapitalfluss so gesteuert werden, dass wichtige EU-Umweltziele wie Klima- und Artenschutz, der Wandel zu einer Kreislaufwirtschaft und die Vermeidung von Umweltverschmutzung erreicht werden können. Mit dieser Verordnung ist ein umfangreicher Kriterienkatalog verbunden, bei der die Umweltziele hervorstechen. Daher stehen sie auch bei uns eindeutig im Vordergrund. Das relevanteste Umweltziel ist natürlich die Reduktion des CO2-Ausstoßes – das steht auch bei unserem Ankerinvestor, der Europäischen Investmentbank, ganz oben auf der Agenda.

Welche Rollen spielen die anderen Dimensionen?

Wir schauen natürlich auch auf „S“ und „G“. In diesen Feldern sind Firmen in der EU-27 durch viele bereits bestehende Gesetze gut aufgestellt. Einige Länder wie Norwegen oder die Schweiz haben zwar höhere Standards als die EU, aber außerhalb der EU ist das nicht notwendigerweise der Fall, also beispielsweise bei den EU-Beitrittskandidaten. Wir schauen z.B. auf den Faktor „Gleichberechtigung der Geschlechter“ bei der Lohngestaltung oder auf „Unternehmensentscheidungen“. Diese sollten möglichst breit – also zusammen mit den Eigentümern, Mitarbeitenden und den Kunden – getroffen werden.

Wie gehen Sie bei einer ersten ESG-Einschätzung eines Unternehmens vor?

Unsere Nachhaltigkeitsbewertungen laufen systematisch, standardisiert und auf der Grundlage neuster wissenschaftlicher Erkenntnisse ab. Vielversprechende, spannende Ideen gibt es zuhauf, aber wir fragen genauer nach, z.B.: Wie hoch ist der Energieverbrauch? Wo kommt die Energie her? Ist sie erneuerbar? Ist der Fußabdruck wirklich positiv? Wie lang sind die Lieferketten? Wo kommen die Rohstoffe her? Welche Öko- und Sozialstandards sind dort maßgeblich? Wie lassen sie sich mit unseren abgleichen – und wie „gut“ steht das Produkt dann da? Wird für Arbeitssicherheit gesorgt? Wie häufig sind Unfälle – und woran liegen sie? Gibt es eine HR-Policy, die eine geschlechts-, religions- oder nationalitätenunabhängige Bezahlung bei gleicher Arbeit festlegt? Wie sieht der Verhaltenskodex des Unternehmens aus? Wird er eingehalten? Unsere Fragenliste ist sehr lang.

Hemmen die umfangreichen ESG-Kriterien Unternehmen nicht eher bei ihrer Entwicklung?

Sicherlich stellen ESG-Kriterien und diesbezügliche Anforderungen Unternehmen vor große Herausforderungen. Ständig zu prüfen, ob sie eingehalten werden, kostet Zeit, Mühe und Wissen – aber hinter ihnen stehen in den meisten Fällen ohnehin unumgängliche rechtliche Regelungen. Darüber hinaus sind die Kriterien Qualitätsfaktoren. Wenn Unternehmen in diesen Bereichen gut aufgestellt sind, ist das nicht nur von ökologisch-sozialem Vorteil. Unternehmen, die hier gut performen, haben oftmals einen ökonomischen Wettbewerbsvorteil. Die Firmen merken, dass ihnen die ESG-Kriterien weiterhelfen – und sie nehmen unsere Hilfen gerne an. Sie wissen natürlich auch: Ohne die Einhaltung dieser Kriterien werden sie in der Regel überhaupt keine Finanzierung mehr erhalten. Auch die Konsumenten achten verstärkt auf Nachhaltigkeitskriterien. Da tut man gut daran, diese nicht nur vorzuweisen, sondern auch verständlich kommunizieren zu können.

Wie sieht Ihre ESG-Unterstützung konkret aus?

Unsere Unterstützung passt sich den Entwicklungsphasen des Unternehmens an. Anfangs geht es vor allem darum, dass Minimalstandards eingehalten oder überhaupt erst einmal eingeführt werden. Auch später bleiben wir immer dicht am Unternehmen dran. Sehen wir bei unseren regelmäßigen Prüfungen Defizite, erarbeiten wir mit dem Unternehmen Maßnahmen zur Verbesserung der Ist-Situation – und wir setzen diese schnell, effizient und gemeinsam um. In unseren Investmentverträgen vereinbaren wir mit den Unternehmen Ziele und Wege, um Lücken zu schließen und die Firmen weiterzuentwickeln. So lassen sich vor allem Missstände in den Dimensionen S und G erkennen, aufarbeiten und „heilen“. Wir arbeiten auch mit „Blaupausen“, also Vorlagen zur Umsetzung von ESG-Kriterien. Das macht es gerade für junge Unternehmen einfacher, sich diesen Themen zu nähern. Da wir auch in den Aufsichtsräten vertreten sind, können wir ESG dort thematisieren und direkt auf die Unternehmensentscheidungen Einfluss nehmen. Darüber hinaus berichten wir unseren Fondsinvestoren, wie die Unternehmen hinsichtlich bestimmter ESG-KPIs performen. Rote Flaggen gibt es aber nur in der E-Dimension. Hier gelten in der Regel Naturgesetze, und die lassen sich nicht einfach umschreiben – wenn hier etwas grundsätzlich nicht stimmt, lässt sich das nicht beheben. Werden hier die wichtigsten Kriterien nicht gleich von Anfang an erfüllt, kommt ein Investment gar nicht erst infrage.

Wie hat sich bei Investoren der Blick auf die Einhaltung der ESG-Kriterien entwickelt?

Durch Klimawandel, Corona, Ukrainekrieg usw. wird der Druck sich diesen Themen anzunehmen selbstverständlich größer – die allgemeine Sensibilität für ESG ist definitiv gestiegen. Am durchregulierten Kapitalmarkt kommt letztlich niemand mehr an den Themen ESG und Nachhaltigkeit vorbei. Insbesondere die ultimativen Eigentümer von Kapital wie Versicherungen, Family Offices, Banken oder Funds of Funds achten nunmehr verstärkt auf die Nachhaltigkeit von Investments. Das wirkt sich insbesondere auf Fonds und deren Portfoliounternehmen aus, nicht zuletzt, weil die EU-Taxonomie ein hohes Maß an Transparenz beim nachhaltigen Investieren schafft. Auch große Unternehmen achten sehr genau auf ESG, da ihre Marken meist stark im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Entsprechend fließt eine positive ESG-Beurteilung in die Bewertung von Akquisitionen. Dabei ist das Pochen auf die Einhaltung der ESG-Kriterien mehr als nur eine Form von Risikomanagement – es hat einen positiven Einfluss auf Marken, Produkte und somit den Unternehmenswert.

Und umgekehrt? Was erwarten Unternehmen von Investoren bzgl. ESG?

Die Unternehmen entscheiden sich nicht mehr zwangsläufig für die Investoren, die das meiste Geld zur Verfügung stellen. Auch die Branchenexpertise ist nicht mehr hauptausschlaggebend. Es wird nun verstärkt nach dem „Nachhaltigkeits-Background“ von Investoren gefragt und ihrem Potenzial, das Unternehmen in diesem Bereich zu unterstützen. Da geht es um konkrete Hilfen mit Vorlagen, Konzepten und Strategien. Investoren können über ihre Portfolios gemeinsame „Lernkurven“ generieren – man könnte auch von „Co-Evolutionen“ sprechen.

Wie hoch schätzen Sie den Einfluss der ECBF-ESG-Aktivitäten für andere Investoren ein?

Nun, es gibt sicher andere Investoren, die sich an uns orientieren. Wir werden als Investor mit einer gewissen Expertise wahrgenommen, insbesondere im Bereich Bioökonomie – weil wir dort über ein großes Technologieverständnis verfügen. Wir verstehen die Märke, da viele unserer Kollegen einen Industriehintergrund haben. Entsprechend sind uns Nachhaltigkeitsthemen sehr geläufig. Wenn wir also investieren, ist das sicherlich ein Qualitätsmerkmal, nicht nur für das entsprechende Unternehmen, sondern insbesondere für die Generalisten unter den Investoren. Für Investoren lauern vor allem bei Nach-Seed-Investments große Risiken – da geht es schnell um hohe Millionenbeträge, beispielsweise beim Bau einer Produktionsanlage. Da hier vielen Investoren die notwendige Sachkenntnis fehlt, besteht hier für Unternehmen eine Kapitallücke. Das hat die EU erkannt und den ECBF aufgesetzt, der eben auch mit seinen ESG-Analysen dieses Risiko für Investoren mindert.

Herr Nettersheim, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Urs Moesenfechtel.

 

ZUM INTERVIEWPARTNER

Michael Nettersheim ist Managing Partner des European Circular Bioeconomy Fund (ECBF).

 

Autor/Autorin

Redaktionsleiter Plattform Life Sciences at GoingPublic Media AG | Website

Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. als Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.