Das Potenzial digitaler Technologien ist groß. Gerade in den klassischen Life Sciences gibt es ein breites Spektrum an ­Möglichkeiten, die modernen Trends der Digitalisierung zu nutzen. Ein Segment, welches immer stärker an Bedeutung ­gewinnt, ist das sogenannte Next Generation Sequencing (NGS). Von Holger Garbs

 

Dabei handelt es sich um ein Hochdurchsatzverfahren für die schnelle und umfassende Sequenzierung und Interpretation von DNA und RNA in verschiedenen und komplexen Proben. Mithilfe von NGS können die Bausteine von vielen Hundert Genen parallel gelesen und ausgewertet werden. So können Veränderungen rascher erkannt und beispielsweise Erberkrankungen zielgerichtet behandelt werden.

Vielfältigste Anwendungen

Lange Zeit hat man vermutet, dass für ­solche Erkrankungen nur ein bestimmtes Gen verantwortlich sei. Doch dieser Schein trog, denn inzwischen ist bewiesen, dass etwa für seltene Erkrankungen oder geistige Behinderungen durchaus mehrere Gene ursächlich infrage kommen. So können etwa bei einem Lungenkarzinom bis zu 30 veränderte Gene ­betroffen sein. Darüber hinaus sind die Anwendungsmöglichkeiten für NGS vielfältig: Humangenetik, Onkologie, Epigenetik, Forensik oder Prävention und nicht ­zuletzt die personalisierte Medizin. Und schließlich eignet sich NGS nicht nur für den Einsatz beim Menschen, sondern auch bei Pflanzen und Tieren. Die Farbenlehre der Biotechnologie wird also weitläufig abgedeckt.

Zwar gibt es weiterhin Fragestellungen, bei denen es sinnvoll sein kann, nur ­einzelne Gene zu analysieren, so bei Krankheiten (besonders bei sogenannten „Orphan Diseases“, also seltenen Erbkrankheiten), die tatsächlich nur von ­einem mutierten Gen ausgelöst werden. Dieses Verfahren, die sogenannte Sanger-Diagnostik, ist jedoch im Vergleich zum NGS wesentlich zeit- und kostenaufwendiger. Beim NGS hingegen reicht in der Regel eine Blutprobe, um viele für ein Krankheitsbild verantwortliche Gene zeitgleich zu analysieren. Dadurch erhalten Ärzte weitaus schneller eine sichere Diagnose – nicht zuletzt auch eine Entlastung für ­Patienten und deren Angehörige. Denn insbesondere bei Krebserkrankungen bestehen immer noch zahlreiche Therapien nach dem Prinzip „Trial and Error“ – mit dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit eines Therapieerfolgs mit Medikamenten eine Quote von rund 30% aktuell kaum überschreitet. Zudem kann auf ­zusätzliche und oftmals für den Patienten unangenehme Diagnoseverfahren, wie etwa Muskelbiopsien, verzichtet werden.

Herausforderung Auswertung und Interpretation

So einfach die Handhabung des NGS im ­Labor auch sein mag, umso komplexer ­gestaltet sich die Auswertung und klinische Interpretation der gesammelten ­Daten. Wird demnach die Mutation in ­einem Tumor eingehender untersucht, können Experten aus den Bereichen ­Pathologie, Humangenetik, Onkologie, Strahlentherapie oder anderer operativer Fächer zusammenkommen. Letztlich öffnet das NGS-Verfahren die Tür in Richtung personalisierte Therapie ein ganzes Stück weit mehr. Krebspatienten kann so mit­unter eine aufwendige und sich wieder­holende Chemotherapie erspart bleiben. Darüber hinaus liefert NGS selbst bei ­einer äußerst geringen Anzahl von Tumorzellen in einer Gewebeprobe verlässliche Ergebnisse. Heute sind moderne Labore mit ­einer Personalstärke von bis zu 15 Wissenschaftlern in der Lage, bis zu 50.000 NGS-Samples pro Jahr zu erstellen. Das entspricht einer Datenmenge von rund zwei Terabyte. Im Jahr 2025, so Expertenschätzungen, sollen weltweit mehr Daten aus NGS generiert werden können, als auf ­YouTube zu sehen sind.

Doch die Zeiten, als die reine Datenmenge beeindrucken konnte, sind vorbei. Denn die eigentliche Frage lautet: Wie soll man mit all diesen Daten umgehen und sie richtig interpretieren? Um eine komplette Prozesskette von der Analyse bis hin zur Archivierung zu gewährleisten, ist eine weitreichende Konsolidierung der Daten notwendig. Und diese kann im Netzwerk funktionieren. Zudem sollte sie, wenn möglich, weitgehend modular erstellt ­werden. So ist eine hinreichende Flexibilität gewährleistet und lassen sich Performance und Kapazität auf den jeweiligen Prozessabschnitt perfekt abstimmen. Trotzdem sehen sich Ärzte und Wissenschaftler mit immer neuen Herausfor­derungen konfrontiert. Soll heißen: Auch in der Medizin werden nicht zuletzt „dank“ NGS händeringend IT-Fachkräfte gesucht.

Wachstumsmarkt NGS

Dass NGS inzwischen ein Wachstumsmarkt ist, ist auch bei ehemals fach­fremden Playern kein Geheimnis mehr. So bietet Google längst spezielle Cloudangebote für NGS-Verfahren an. Überhaupt hat sich „Sequencing as a Service“ zu einem lukrativen Geschäftsmodell entwickelt, auch in Deutschland treten immer mehr Unternehmen aus diesem Bereich in den Vordergrund. Ein markanter Aspekt für die positive Entwicklung von NGS ist ­zudem die Kostenübernahme durch die deutschen Krankenkassen. Zuvor nur auf die Sanger-Methode reduziert, gibt es ­inzwischen auch für NGS entsprechende Abrechnungsverfahren. Entscheidend für den Erfolg von NGS bleibt aber wohl der hinreichende Ausbau der Dateninfrastruktur, Stichwort Digitalisierung. Beim NGS geht es also nicht nur um die technischen Möglichkeiten, sondern auch um die Einsatzfähigkeit und Anwendbarkeit dieser modernen Technologie. Vorhandene und künftige Kapazitäten und Anwendungen müssen den Herausforderungen genügen. Archivierung und Erweiterbarkeit und schlicht das Management der riesigen ­Datenmengen müssen gewährleistet werden – egal ob mit oder ohne Cloud.

BIO.NRW.academy zum Thema NGS

Die Aktualität des Themas NGS unterstrich beispielsweise auch die Veranstaltung „Digitalisierung in den Life Sciences am Beispiel des Next Generation Sequencing“ der BIO.NRW.academy Ende Januar, ausgerichtet in den Räumen der Telekom Design Gallery in Bonn. Rund 80 Vertreter aus Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft und Politik kamen zusammen, um sich auszutauschen und aktuelle Trends aufzunehmen. „Das nunmehr zehnjährige Cluster ­

BIO.NRW hat mit bewährten Formaten wie der BIO.NRW.academy, wie hier bei der Telekom in Bonn und damit sozusagen im Hightech-Labor der Kommunikation, und aktuellsten Themen mit hochkarätigen Referenten die NRW-Life-Science-Szene zunehmend breiter aufgestellt“, erklärt Dr. Bernward Garthoff, Manager für das Cluster BIO.NRW. „Und das betrifft alle ‚Biotech-Farben‘ und Technologien, aber insbesondere die Verknüpfung von Digitalisierung mit der eigentlichen Anwendung im Gesundheitsbereich. Sprich in der Diagnostik, individualisierten Medizin und Therapieempfehlung, etwa durch NGS und Proteomik. NRW hat hier einfach alles verfügbar“, so Garthoff. Das Format BIO.NRW.academy besteht seit 2009 aus Workshops und Symposien zu jeweils aktuellen Life-Science-Themen an wechselnden Standorten in NRW. In Bonn wurde gleichzeitig die 20. Ausgabe der Workshopreihe gefeiert.

Große Player der Szene wie QIAGEN oder Miltenyi Biotec waren vertreten, aber auch ­aufstrebende Start-ups wie NEO New Oncology aus Köln oder die frisch gegründete Acus Laboratories, ebenfalls in der Domstadt ansässig. Sie alle beleuchteten die Einsatzgebiete von NGS im Rahmen von Therapieentscheidungen, bei individualisierten Immuntherapien, in der Kardiologie oder im Rahmen der Wirkstoffforschung. Über den Einsatz von NGS in der Phänotypisierung, Züchtung und Pflanzenforschung berichtete Dr. Sebastian Schultheiss von der Firma Computomics, während der Vortrag von Dr. Yuanyuan Chen von Novogene einen hinreichenden Einblick in das Thema „NGS in China“ verschaffte.

Eine abschließende Podiumsdiskussion informierte über Rahmenbedingungen und weitere Potenziale in verschiedenen Anwendungsbereichen. Dabei wurde einmal mehr deutlich, dass es in Deutschland an einer digitalen Agenda fehlt, die auch Fragen des Datenschutzes berücksichtigen muss. Alle Teilnehmer appel­lierten zudem daran, sich bei der Behandlung von ethischen Fragen nicht von der „German Angst“ leiten zu lassen, sondern vielmehr die Möglichkeiten von NGS bei der frühzeitigen und ziel­gerichteten Diagnose und Therapie von Krankheiten in den Vordergrund zu stellen.

Informationen zur nächsten BIO.NRW.academy finden sich unter www.bio.nrw.de/veranstaltungen.

Autor/Autorin

Holger Garbs ist seit 2008 als Redakteur für die GoingPublic Media AG tätig. Er schreibt für die Plattform Life Sciences und die Unternehmeredition.