Am 10. März 1997 startete der Neue Markt mit Mobilcom und Bertrandt und führte zu einem bis dahin in Deutschland beispiellosen IPO-Boom mit jährlich über 100 Börseneinführungen in diesem Segment. Ein neuer Unternehmenstypus setzte sich durch: sogenannte Zukunftsbranchen, z.B. Internet und Biotech, mit erheblichen Chancen und Risiken. Von Prof. Dr. Wolfgang Blättchen

Prof. Dr. Wolfgang Blättchen
Prof. Dr. Wolfgang Blättchen

Der Neue Markt stellte die damals erfolgreichste von mehreren europäischen Initiativen dar, innovative Wachstumsunternehmen anzusprechen (z.B. EASDAQ in Brüssel oder AIM in London). Vorreiter sämtlicher Initiativen war die US-amerikanische Börse NASDAQ. Der Börsengang galt bei Unternehmen und Investoren als „Königsweg zur Eigenkapitalbeschaffung“, obwohl erhebliche Pflichten, z.B. Quartalsberichte, internationale Rechnungslegung, Designated Sponsors etc. notwendig wurden – zu dieser Zeit in Deutschland eher ungewöhnlich.

Die Entwicklung ist bekannt: Der NEMAX stieg am 10. März 2000 auf den Höchststand von 9.666 Punkten. Am 30. Dezember 2004 war Schluss – die Anzahl der Börsengänge ist 20 Jahre danach sogar unter den Stand der frühen 90er-Jahre bei mittlerweile nur noch fünf Neuemissionen 2016 angelangt. Ähnlich die Entwicklung an der NASDAQ – allerdings gingen in den USA 2016 auch über 100 Unternehmen an die Börse.

In den letzten 15 Jahren hat sich der „Private Market“ erheblich entwickelt, und die Firmen warten oft sehr lange, bis sie sich aufs Parkett wagen.

Während die Unternehmer in den 90er-Jahren die Aktiengesellschaft als notwendiges Übel akzeptierten und die Vorteile der Börsennotierung – z.B. einen hohen Bekanntheitsgrad oder Mitarbeiterbeteiligungen – hoch gewichteten, stehen heute die schnelle Verfügbarkeit privaten Wagniskapitals, teilweise überhöhte Bewertungen sowie die Möglichkeit, „unter sich zu bleiben“, im Mittelpunkt. Die Überregulierungen im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, die sensationslustige Presse, die Beschwörung der Kurzfristigkeit öffentlicher Märkte und die Tendenz, alle Übel der Gesellschaft auf die börsennotierte Gesellschaft abzuladen, führen dazu, dass heute viele Unternehmen diesen Weg scheuen.

Mit Ausnahme des Biotechsektors, in dem die Akteure einen dichten Regulierungsrahmen gewohnt sind und der Kapitalbedarf mit hohen Risiken über viele Jahre laufende Eigenkapitalzuführungen erzwingt, versuchen heutige Innovationsunternehmen, eine Börseneinführung so lange wie möglich hinauszuzögern.

Die steigende Anzahl der nicht börsennotierten „Einhörner“ zeigt, dass ein großer Teil des Wertzuwachses auf diese Weise im Kreis weniger großer Anleger bleibt und sicher auch zu der immer wieder kritisierten Reichtumsschere beiträgt: Microsoft, Apple und Amazon sind alle sehr früh an den öffentlichen Markt gekommen und nicht erst mit einem Wert von über 50 Mrd. USD. Inwieweit die wenigen Privilegierten davon profitieren, zeigt sich bei Snapchat: gegründet 2011 und von einem strategischen Käufer vor einigen Jahren für angeblich 3 Mrd. USD umgarnt, pendelte sich die Bewertung in den ersten Wochen nach dem IPO auf 13 bis 14 Mrd. USD ein.

Seit einigen Jahren erleben wir wieder einen „Start-up-Boom“: Disruptive Geschäftsmodelle, Innovationen bei der Energiespeicherung, in der Robotik oder Genomprogrammierung bringen neue Spieler hervor. Besonders wenn es um große Summen geht, spielen ausländische, institutionelle Anleger eine Rolle. Für viele junge Unternehmen stellt sich die Frage, ob sie dieses Kapital über eine Börse aufnehmen sollen und dafür genug Kapitalgeber in Europa finden. Zweifler gehen entweder zu den Wagniskapitalgebern, zu Corporate-Venture-Capital oder an die amerikanische Börse. Bei letzterem Weg haben sie die Wahl, sich indirekt der lästigen deutschen Aktiengesellschaft und damit ihrer Beschränkungen zur schnellen Kapitalaufnahme, bedingt durch etliche Corporate-Governance-Pflichten, zu entledigen.

20 Jahre danach unternimmt die Börse einen neuen Vorstoß für ein KMU-Segment. Zwar richtet es sich eher nicht an innovative, sondern an traditionellere Unternehmen, doch bringt es zumindest einen Fortschritt, was die Regulierung in der börsennotierten AG angeht. Wenn die Börse und die Öffentlichkeit wieder bereit sind, nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen der Unternehmensbeteiligung über Aktien in einem diversifizierten Portfolio zu diskutieren, dann sind auch wieder Emittenten bereit, Chancen und Risiken mit einem breiten Anlegerpublikum zu teilen. Es wäre ein schöner Beitrag zum Abbau der gefühlten Ungleichheit und zum wirtschaftlichen Verständnis breiter Bevölkerungskreise. Sowohl Mobilcom-Freenet als auch Bertrandt haben heute Milliardenkapitalisierungen und ihre Anleger früh daran beteiligt.

Die Kolumne erschien zuerst in der April-Ausgabe des GoingPublic Magazins.

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