Rainer Riess neues FotoSeit Kurzem ist der Ex-Managing Director der Deutschen Börse an vorderster Regulierungsfront tätig: in Brüssel. Die Federation of European Securities Exchanges hat ein Auge darauf, dass europäische Kommission, Rat und Parlament börsenrelevante Entscheidungen im Sinne ihrer Bedeutung für die Realwirtschaft treffen. Das GoingPublic Magazin sprach mit ihm u.a. über den Delistingtrend, Überregulierung und die starke Benachteiligung von Eigenkapital in Europa.

GoingPublic: Herr Riess, was genau ist eigentlich die FESE und was macht sie?
Riess: Die Federation of European Securities Exchanges ist 40 Jahre alt und vertritt die Interessen der europäischen Börsen in Brüssel, 37 Börsen mit 20 Mitgliedern – ohne London und die Borsa Italiana. Mit anderen Worten: Es geht um die Positionierung der Börsen und ihre Aufgaben für die Realwirtschaft.

GoingPublic: Ist es denn möglich, die verschiedenen Interessen der einzelnen Länder auf eine Linie zu bringen oder am gleichen Strang ziehen zu lassen?
Riess: Auf eine Linie bringen muss die FESE da wenig: Es geht uns darum, gemeinsame Positionen zu vertreten, damit der europäische Kapitalmarkt mit hoher Integrität, Transparenz und Effizienz den Unternehmen und Investoren dient. Es geht um die einheitliche Vertretung der Interessen. Viele kapitalmarktrelevante Gesetzgebungen wie MiFID, WpHG etc. sind europäisch reguliert – daher ist es wichtig, einerseits Brüssel-konform zu agieren und andererseits die landesspezifischen Besonderheiten nicht außer Acht zu lassen.

GoingPublic: Mit anderen Worten: Lobbyarbeit?
Riess: Klingt im Deutschen nicht so schön, hier in Brüssel heißt es „Advocacy“, also Interessenvertretung. Dies bezieht sich auf die verschiedenen Gremien wie europäische Kommission, Parlament und Rat – die mit Fakten und Argumenten davon überzeugt werden müssen, welche Entscheidungen sie im Sinne der Realwirtschaft treffen sollten.

GoingPublic: Was sind die aktuellen Hauptanliegen der FESE?
Riess: Derzeit sind diverse Vorhaben anhängig, alle im Zeitraum bis 2017, beispielsweise EMIR (European Market Infrastructure Regulation) oder MiFID (Markets in Financial Instruments Directive), aber auch eine Überarbeitung des Prospektrechts.

GoingPublic: Was muss man sich unter dem kürzlich von der FESE vorgestellten Blueprint für die Finanzmärkte vorstellen?
Riess: Seit dem Lehman-Kollaps Ende 2008 zielte der Kern der Regulierungsbestrebungen darauf ab, was sich in punkto Finanzmarktstabilität tun ließe und wie man die Finanzmarktintermediäre besser beaufsichtigen könnte. Man will verhindern, dass der Steuerzahler noch einmal einspringen muss, um einen dieser Intermediäre zu retten. Das war notwendig, gut und auch richtig angesichts der gesehenen Verfehlungen – und sicherlich waren die letzten fünf Jahre die aktivste Regulierung, die wir seit Bestehen der EU im Bereich Finanzmarkt hatten.

GoingPublic: Aber?
Riess: Aber der Fokus auf Unternehmen und Investoren kam dabei zu kurz. Dies ist in einem Europa mit seinen aktuellen Wachstumsproblemen und hoher Arbeitslosigkeit in zahlreichen Ländern jedoch von sehr hoher Wichtigkeit. Daher sagen wir mit dem Blueprint, dass es einer neuen Kalibrierung der europäischen Gesetzgebung bedarf, damit wirklich Kapital–Eigenkapital – besser in Europas wertschöpfenden Unternehmen ankommt. Wir haben uns viele Themenkomplexe angesehen und Vorschläge erarbeitet. Leider greifen wenige dieser Maßnahmen in kurzer Zeit. Sondern es sind Themen wie  beispielsweise besserer Zugang zu Finanzierung im vorbörslichen Bereich oder bessere Bildung in Finanzthemen, die man über viele Jahre hinweg mit langem Atem angehen muss, weil sie einfach notwendig sind, um Europa wettbewerbsfähig zu halten.

Buffett IndikatorGoingPublic: Es gibt ja die berühmte Immobilienuhr hinsichtlich des aktuellen Zyklusstands. Wie steht  es damit in punkto Regulierung im Börsenwesen?
Riess: Es geht darum, so viel Regulierung wie nötig und so wenig wie möglich zu schaffen. Anlegerschutz und Finanzmarktstabilität wird man stets befürworten und für richtig halten. Natürlich fragt man sich ständig: Hat man auch das Richtige reguliert? So haben kleinere Unternehmen viele teure Bürokratiehürden, beispielsweise müssen sie in Europa nach zwei Rechnungslegungen bilanzieren: einmal nach nationalen Regelungen für die inländische Steuerbilanz, einmal nach IFRS für ihren Gang oder Verbleib am Kapitalmarkt. Das ist sehr komplex für europäische Investoren und eine Belastung für Unternehmen. Mit anderen Worten, man könnte hier in Europa doch sicherlich einiges einfacher und besser machen.

GoingPublic: Haben Sie ein konkretes Ziel veranschlagt?
Riess: In der Tat ist unser Ziel, dass unsere hiesigen Börsen 100% Marktkapitalisierung bezogen auf das jeweilige Bruttoinlandsprodukt erreichen sollten. Das ist realistisch und machbar. In den USA sind es aktuell rund 130%, in Europa weniger als 80%. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Regulierungen, die wir in Europa haben, sind keineswegs verkehrt. Aber wir müssen für eine Zukunft mit verknappter Kreditverfügbarkeit planen. Deshalb unser Langfristziel, die vielen kleinen Hürden zu beseitigen, die es europäischen Unternehmen schwerer machen als ihren amerikanischen Pendants, an den Kapitalmarkt zu gehen.

GoingPublic: Was können wir von den USA lernen – und umgekehrt?
Riess: Die USA haben eine ganz andere Kapitalmarktstruktur. Europa muss deshalb seinen eigenen Weg gehen und eigene Entscheidungen treffen, wir haben eine unterschiedliche Kultur und Historie. Aber auch in den USA wurde auf die erschwerten Zugangsbedingungen nach dem Sarbanes-Oxley-Act reagiert: mit einer IPO-Task-Force, was 2012 im sogenannten JOBS-Act mündete (JOBS = Jumpstart our Business Start-ups). Davon kann man sicherlich lernen. Lässt sich das eins zu eins auf Europa übertragen? Nein! Aber wir haben in Europa inzwischen auch eine IPO-Task-Force gemeinsam mit FESE, European Issuers und EVCA (European Private Equity Venture Capital Association) gegründet und wollen Ende des Jahres einen Expertenbericht vorlegen.

GoingPublic: Wie könnte ein Vorschlag für Europa aussehen, vielleicht Steuererleichterungen für Start-ups?
Riess: Größter Knackpunkt ist zweifelsohne, dass wir immer noch eine gravierende Benachteiligung von Eigenkapital gegenüber Fremdkapital haben. So kann man die Fremdkapitalkosten von der Steuer absetzen, aber beim Eigenkapital wird man auf Unternehmens- und dann nochmal auf Investorenebene belangt. Das macht Kredite überverhältnismäßig attraktiv in Europa. Im Umkehrschluss schwächt es aber die Finanzierung von Europas Wirtschaft durch Eigenkapital.

GoingPublic: Wie sieht man den Börsenplatz Frankfurt eigentlich vom Ausland aus?
Riess: Deutschland hat ganz sicher eine gute Stellung: So gibt es einen Wachstumsmarkt mit dem Entry Standard, ähnlich dem AIM in London oder First North in Skandinavien. Der Spagat zwischen Anlegerschutz und Hürden für Börsenaspiranten funktioniert und es gibt erfolgreiche IPOs. Dieser Spagat funktioniert jedoch weniger gut in vielen kleineren europäischen Ländern. Aber Themen wie aktive Unterstützung der Gründerszene, Verfügbarkeit von Venture Capital, Innovationen wie Crowdfunding, Research zu erleichtern oder wie bringt man Börsenaspiranten frühzeitig in Verbindung mit den Kapitalmärkten, da kann in Deutschland nichtsdestotrotz sicherlich noch vieles besser gemacht werden. Dann werden wir auch wieder mehr Börsengänge sehen.

GoingPublic: Was benötigen wir in Deutschland zu allererst: eine andere Aktienkultur oder vielleicht doch erst  verständnisvolle Investoren?
Riess: Wir brauchen beides, das ist kein Henne-Ei-Problem. Sie können beruhigt sein: Beides ist kein rein deutsches Problem, sondern verhält sich in vielen europäischen Ländern ähnlich. Natürlich brauchen wir eine Aktienkultur, um der jungen Generation zu ermöglichen, attraktive Renditen auf ihre Altersvorsorge zu erzielen! Ohne risikobereites Eigenkapital werden wir Innovations bereit schaft, Schaffung von Arbeitsplätzen und Wachstum nicht bewältigen. Und wir müssen die Hürden für kleine und mittelgroße Unternehmen, sich Wachstumskapital zu beschaffen, so niedrig wie möglich machen!

GoingPublic: Herr Riess, ganz herzlichen Dank für die interessanten Einblicke!

Das Interview führte Falko Bozicevic. Es erschien zuerst im GoingPublic Magazin 12.

 

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