Blättchen
Prof. Dr. Wolfgang Blättchen

Der derzeitige Biotech- bzw. Healthcare-Boom ist bisher am deutschen Primärmarkt völlig vorbeigegangen. Seit 2012 erlebt die Biotech-Branche nach einer fast zehnjährigen Flaute ein fulminantes Comeback, das in den USA initiiert wurde. So stieg die Anzahl der Biotech/Biopharma-Neuemissionen auf mehr als 130 mit einem Gesamtvolumen von über 13 Mrd. USD. Darunter finden sich auch Unternehmen, die Leadprodukte in der noch sehr frühen klinischen Phase I oder sogar nur pre-klinischen Studien besitzen. Vor einigen Jahren waren Börsengänge mit einer solchen Pipelinestruktur undenkbar. Aktuell sind über 340 Biotechwerte an den einzelnen US-Börsenplätzen gelistet mit einer Marktkapitalisierung von rund 650 Mrd. EUR. Damit zählt der US-Markt zum weltweit größten Finanzierungsplatz für diesen Teil der „Venture-Industrie“.

Aber wie ist es um den europäischen Kapitalmarkt gestellt? Hier stechen die Börsenplätze Euronext/Alternext, die Londoner Börse (LSE), der skandinavische Börsenverbund Nasdaq OMX sowie die Züricher Börse SIX hervor, die den derzeitigen Boom mit Neuemissionen aktiv unterstützen. Der paneuropäische Börsenverbund Euronext mit dem im Freiverkehr angebundenen Alternext haben seit 2010 immerhin 18 Neuzugänge mit einem Volumen von rund 390 Mio. EUR für sich gewonnen. An zweiter Stelle steht die Londoner Börse mit dem Zugangssegment Alternative Investment Markets (AIM) mit drei IPOs und einem Volumen von rund 132 Mio. EUR. Der EU-regulierte „Main Market“ konnte 2014 einen Neuzugang mit einem Emissionsvolumen von 260 Mio. EUR verzeichnen. Insgesamt notieren in London 30 Biotech-Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von 6,3 Mrd. EUR.

Damit steht London an zweiter Stelle nach dem paneuropäischen Verbund Euronext/Alternex mit insgesamt über 40 gelisteten Werten und einem Börsenwert von etwa 13 Mrd. EUR. Der skandinavische Nasdaq-OMX-Markt und die Schweizer Börse SIX weisen 2013 jeweils einen Neuzugang in Höhe von 1,3 Mio. bzw. 90 Mio. EUR aus. Insgesamt notieren an den skandinavischen Börsen 26 Biotech-Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von rund 18 Mrd. EUR. Die Schweizer Börse besitzt immerhin neun Biotech-Unternehmen mit einer Gesamtkapitalisierung von über 14 Mrd. EUR auf ihren Kurszetteln. Nur die Frankfurter Börse konnte von dem bisherigen Neuemissionsboom nicht profitieren, obwohl es hier eine lange Historie für diese Branche gibt. Insgesamt notieren dort 15 Werte mit einer Gesamtkapitalisierung von zirka 8 Mrd. EUR. Obwohl in Deutschland eine rege Biotech-Szene mit über 400 Unternehmen existiert, ist die Kapitalmarktfinanzierung an der heimischen Börse anscheinend unattraktiv. Unter den 400 Unternehmen gibt es sehr wohl attraktive und kapitalmarkttaugliche Gesellschaften. Das zeigen die Auslandsnotierungen von Innocoll, Affimed oder Probiodrug, die entweder den Sprung über den großen Teich (Nasdaq, NYSE) wagten oder die Euronext für den Börsengang wählten. Hier stellt sich für uns die Frage, warum deutsche Emittenten den deutschen Börsenplatz meiden. Zwei Antworten drängen sich auf. Zum einen erfordert Biotechnologie grundsätzlich sehr viel Spezialwissen von Investoren, um das Potenzial einzuschätzen.

Im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern und Frankreich finden sich in Deutschland kaum noch spezialisierte Investoren, die sich für Neuzugänge interessieren. Hinzu kommt, dass die großen Generalisten ihre Researchabteilungen in diesem Segment in den letzten Jahren deutlich reduziert haben und das Know-how nicht mehr vorgehalten wird. Zum anderen fehlt den Emittenten der direkte Zugang zu Privatanlegern, die im Gegensatz zur üblichen Meinung durchaus Interesse an einem Investment in diesem chancen- und risikoreichen Venture-Segment zeigen. Ein Indiz dafür ist das rege Zeichnungsinteresse bei der Barkapitalerhöhung von Paion mit einem Volumen von über 50 Mio. EUR in diesem Jahr. Ein anderes Beispiel sind die von Privatanlegern und Family Offices gezeichneten MIG Fonds, die in Biotechnologie-Unternehmensbeteiligungen investieren. Die Kombination aus der Ansprache von spezialisierten Investoren auch aus dem angelsächsischen Raum mit der gleichzeitigen Einbindung von Privatanlegern ist für heimische Biotech-IPOs entscheidend. Sämtliche Investorengruppen können durchaus auch am deutschen Börsenplatz einbezogen werden. Nur muss dafür der Wille beim Emittenten und den emissionsbegleitenden Banken vorhanden sein. Zugleich sollte die Deutsche Börse diese Möglichkeiten in ihrer Vermarktung besser hervorheben und in der Öffentlichkeit erwerben.

Zum Autor:

Prof. Dr. Wolfgang Blättchen ist geschäftsführender Gesellschafter der BLÄTTCHEN FINANCIAL ADVISORY GmbH und ist seit 30 Jahren als unabhängiger Berater für Kapitalmarktstrategien aktiv. In dieser Zeit konnte er rund 50 erfolgreiche IPOs und IBOs sowie zahlreiche weiterführende Kapitalmarkttransaktionen begleiten. Er ist aktives Mitglied in Aufsichts- und Beiträten börsennotierter und privater Unternehmen, Ansprechpartner der Börsen sowie Autor zahlreicher Publikationen zum Thema Kapitalmarkt.

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