Prof. Dr. Ulrich Seibert, Leiter des Referats Gesellschaftsrecht im Bundesministerium der Justiz
Prof. Dr. Ulrich Seibert, Leiter des Referats Gesellschaftsrecht im Bundesministerium der Justiz

Die Hauptversammlungen werden oftmals von der Verwaltung als zu lang, träge und lästig empfunden? Warum ist das Ihrer Ansicht nach so?
Prof. Dr. Ulrich Seibert: Das sind traditionelle Einschleifungen. Man hat über Jahrzehnte Angstreflexe aufgebaut vor den Anfechtungsklagen wegen formaler Fehler und mangelnder Beantwortung von Fragen. Das Aktienrecht hat sich aber geändert. Der Gesetzgeber hat deutlich gemacht, dass eine normale Hauptversammlung nicht länger als 2-4 Stunden dauern sollte, das Geschäftsmodell erpresserischer Kläger funktioniert seit UMAG und ARUG nicht mehr. Die Anfechtungsklagen gegen HV-Beschlüsse mit Registersperre sind um bis zu 90% zurückgegangen. Aber die Angst scheint immer noch in den Knochen zu stecken. Gewohnheiten in den großen Konzernmühlen und der Beratungswirtschaft ändern sich nur langsam.

Ist es zu viel verlangt, dass sich Aufsichtsrat und Vorstand einmal im Jahr ihren Eigentümern stellen? Wo und was läuft hier falsch?
Natürlich nicht. Aber erfüllt die Hauptversammlung heute noch diesen Zweck? Wer ist denn da? Stimmrechtsvertreter, die genervt sind, dort zehn Stunden rumsitzen zu müssen, wackere Sprecher von Schutzvereinigungen und sonst Betriebsrentner und andere Kleinaktionäre, die zwar zahlreich erscheinen, aber kaum nennenswerte Stimmrechte halten. Und angesichts der Zahl von 100.000 bis Millionen von Aktionären weltweit sind auch die, die den Saal füllen, weder repräsentativ noch ins Gewicht fallend. Die Hauptversammlung ist in einer Sinnkrise. Es ist ein vertrautes Ritual, ein Kostümstück aus alten Zeiten, so wie die Fotos vom Börsenparkett, auf denen in der Baisse gepeinigte Makler die Hände vors Gesicht schlagen – während in Wahrheit alles über die Server geht.

Im AktG wurden gerade in den letzten Jahren viele Änderungen auch rund um die HV vorgenommen. Was war dabei Ihr Ansatz?
Wir haben seit der Jahrtausendwende in zahlreichen Schritten das Aktienrecht, aber vor allem auch die Hauptversammlung auf die digitale Zukunft vorbereitet: Stimmrechtsvollmachten nicht mehr in Papier, sondern elektronisch, Stimmrechtsausübung über einen Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft, Einführung der elektronischen Briefwahl, elektronischer Bundesanzeiger, Abschaffung der Bekanntmachungen in Papierzeitungen, Ermöglichung elektronischer Einladungen, „Zugänglichmachen“ von Mitteilungen, FAQ und Anträgen auf der Website der Gesellschaft, AR-Sitzung per TelKo, HV-Übertragung im Fernsehen, Spartenfernsehen oder per Streaming im Internet, Zulassung der elektronischen Teilnahme an der HV, Zulassung des Fragerechts der Aktionäre über das Internet mit weitgehender Satzungsautonomie und möglicher Einschränkung des Anfechtungsrechts. Das Ziel war: Alle Möglichkeiten eröffnen, ohne dazu zu zwingen. Was die Wirtschaft mit der HV will, muss sich in der Wirtschaft und nach den Marktbedürfnissen entwickeln; das Gesetz soll nicht behindern.

Sehen Sie die Notwendigkeit, künftig weitere regulatorische Änderungen vorzunehmen?
Ich sehe derzeit keine dringenden Änderungen mehr, außer der europaweiten Vereinheitlichung des Record Dates. Aus der EU kommen Pläne zur Digitalisierung des Gesellschaftsrechts – das meiste dürften wir schon haben. Wenn es noch irgendwo rechtlich hakt, werden und sollen uns das die Verbände, etwa der BDI, das DAI, der Handelsrechtsausschuss des DAV sowie die Wissenschaft und die Praxis mitteilen.

Nun kann man niemandem vorschreiben, die HV attraktiver zu machen. Aber wie flexibel sind die AGs in der Gestaltung?
Die genannten Rechtsänderungen geben bereits heute sehr viel Flexibilität. Man kann eine HV an einem Ort mit Zuschaltung anderer Satelliten-Veranstaltungen abhalten, man kann sogar eine virtuelle HV machen, bei der Vorstand, Aufsichtsrat – vielleicht nicht komplett – und Notar im Meeting-Room der Gesellschaft zusammen treffen und alle Aktionäre elektronisch zugeschaltet sind oder ihre Stimmen bereits vorher an den Stimmrechtsvertreter oder per Briefwahl elektronisch abgegeben haben.

Wo sehen Sie die deutsche HV in zehn Jahren?
Das weiß ich nicht. Zehn Jahre sind schnell und langsam. Die Wirtschaft muss sich zunächst einmal darüber Gedanken machen: Welchen Zweck soll die Hauptversammlung der Zukunft erfüllen, was soll sie leisten? Die technischen Fragen sind weitgehend gelöst, aber eben die Sinnfrage, die Grundsatzfrage nicht. Soll die HV ein reiner Beschlussprotokollierungstermin sein? Das kann man in 30 Minuten erledigen. Soll sie eine Marketingveranstaltung, ein weltweit live gestreamter Event wie z.B. am 30. April erstmals von Buffet aus Omaha, ein Erweckungsgottesdienst sein? Oder soll sie der Kommunikation und dem Meinungsaustausch mit den Aktionären über die Unternehmensstrategie dienen – was mit der derzeitigen Präsenz-HV kaum möglich wäre. Solange diese Klärung nicht erfolgt, wird das alte, angestaubte Ausstattungsstück weitergespielt.

Das Interview führte Marc Tüngler, DSW e.V.

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