„Den Fluss überqueren und mit den Füßen nach den Steinen tasten“ – mit dieser Losung gab Chinas Reformer Deng Xiaoping den Weg der schrittweisen Öffnung der größten Volkswirtschaft der Welt zur globalen Marktwirtschaft vor. Ein radikaler, ein pragmatischer Schritt: Zukünftig sollten nicht mehr die Lenkung der Partei und die Ideologie im Mittelpunkt stehen, sondern das Wachstum und der ökonomische Erfolg. „Egal ob die Katze schwarz oder weiß ist“, ließ Deng verkünden, „Hauptsache sie fängt Mäuse.“ Was Mitte der 1980er Jahre begann, führte China hinaus aus dem wirtschaftlichen Niedergang und zurück zu einer wirtschaftlichen Stärke, mit der das Reich der Mitte an seine Geschichte anknüpft.

Zur Erinnerung: Nach Daten des Historikers Angus Maddison belief sich Chinas Anteil an der Weltwirtschaft im Jahr 1000 v. Chr. auf 22% (siehe Schaubild). Der Abstieg setzte mit der Industrialisierung Europas und der Entdeckung Amerikas ein, wobei die Abschottung vom Welthandel durch die Ming-Dynastie vermutlich den entscheidendsten Schritt zur Degeneration darstellte. Handel und Wettbewerb als Innovationstreiber wurden ausgeschaltet. Am Ende war das Land geschwächt und konnte sich nicht mehr den Ansprüchen der Kolonialstaaten entziehen.

Chinas Anteil am globalen BIP vom Jahr 1000 bis 2014 (kaufkraftbereinigt). Quelle: A. Maddison, Contours Of The World Economy 1-2030 AD, IWF, Allianz GI Global Capital Markets & Thematic Research
Chinas Anteil am globalen BIP vom Jahr 1000 bis 2014 (kaufkraftbereinigt). Quelle: A. Maddison, Contours Of The World Economy 1-2030 AD, IWF, Allianz GI Global Capital Markets & Thematic Research

Über den Zwischenschritt des Opiumkrieges war das Land reif für die kommunistische Machtergreifung Maos. Kulturrevolution und der „Große Sprung nach vorne“ vollendeten, was mit der Ming-Dynastie begann: Der freie Markt und mit ihm der „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ (F.A. von Hayek) wurden ausgeschaltet. Das Allwissen der Partei als Hüterin der Ideologie klärte die Allokationsfrage. Massenarmut und Hungersnöte waren die Folge.

 Umso radikaler erscheint die „Flussüberquerung“ Dengs aus heutiger Perspektive. Die jüngsten Liberalisierungen stehen in einer Linie mit dieser Entwicklung: Nicht nur, dass Frankfurt bzw. London als weitere Handelszentren des Renminbi Botschafter davon sind, auch die steigende Anzahl von bilateralen Swap-Vereinbarungen zwischen der chinesischen und anderen internationalen Notenbanken sowie die jüngsten Schieflagen von Immobilienentwicklern und Solarfirmen verdeutlichen diese historische Wendung. Das Korrektiv des Marktes rückt gegenüber der zentralen Planung immer weiter in den Vordergrund. Da ist es nur konsequent, wenn Schieflagen auch zugelassen werden.

Fehlallokationen, die sich in überhitzten Immobilienmärkten, faulen Bankkrediten und einem unregulierten Schattenbankensystem niederschlagen, sollen den Marktkräften überlassen werden. Das sind direkte Konsequenzen der Beschlüsse des jüngsten Nationalen Volkskongresses vom Frühling dieses Jahres.

Die Beschlüsse des jüngsten Nationalen Volkskongresses

In deren Mittelpunkt steht insgesamt betrachtet die Liberalisierung des Kapitalmarktes und somit der Zinsen. Der Marktmechanismus soll eine „entscheidende” Rolle in der Ressourcenallokation einnehmen mit dem Ziel der effizienteren Allokation des Kapitals.

Wirtschaftspolitischer Schwenk

Gleichzeitig kommt es zu einer Änderung des „Geschäftsmodells“ der chinesischen Wirtschaft: Nicht mehr der Export soll im Mittelpunkt des Wachstums stehen, sondern der Binnenkonsum. Das Jahr 2020 wird zeigen, ob China den eingeschlagenen Weg erfolgreich zu Ende gehen kann. Denn bis dahin sollen die verabschiedeten Reformen erreicht und umgesetzt sein.

Steigende Anzahl von bilateralen Swap-Vereinbarungen. Quelle: IIF, Allianz GI Global Capital Markets & Thematic Research, April 2014
Steigende Anzahl von bilateralen Swap-Vereinbarungen. Quelle: IIF, Allianz GI Global Capital Markets & Thematic Research, April 2014

Verstehen

Mit den Reformvorhaben ist eine neue Stufe der wirtschaftlichen Transformation erreicht. Der Preismechanismus wird an den Finanzmärkten am Ende aller geplanten Reformschritte im Mittelpunkt des Allokationsprozesses stehen. Staatlich gelenkte Zinsen und Kreditvergaben sollten dann der Vergangenheit angehören. Als logische Konsequenz der Liberalisierung dürfte auch der Renminbi am Ende voll konvertierbar und frei handelbar sein – bereits heute ist der Renminbi die am zweithäufigsten gehandelte Währung in der internationalen Handelsfinanzierung. So möchte China laut seines Vizepremiers Zhang Gaoli ein „modernes und wettbewerbsfähiges Marktsystem mit fairen und offenen Marktregeln etablieren“. Als erster Schritt dazu ist die jüngste Ausweitung der Schwankungsbreite (von +/-1 % auf +/-2 %) zu sehen.

Für die zukünftige Entwicklung Chinas bedeutet dies:

  • Die Entwicklung wird weniger planbar, da die planwirtschaftlichen Elemente weiter verdrängt werden und die Preissignale ins Zentrum der Allokationsentscheidung rücken.
  • Das sollte sich zukünftig nicht nur in stärkeren Schwankungen des Bruttoinlandsprodukts, sondern auch des Renminbi niederschlagen. Bisher waren die erwünschten Wachstumsraten Ausfluss zentralstaatlicher Planung.
  • Wo sich Zinsen über Marktpreise bilden und Bankrotte zugelassen statt durch Geldschöpfung kaschiert und vertagt werden, ist mit einer Verknappung und Verteuerung der Kredite zu rechnen. Das dürfte sich auch in der Realwirtschaft (Stichwort: Immobilienmärkte) auswirken.
  • Die Welt sollte sich also auch an weitere Abschreibungen im Bankensystem und an Schieflagen gewöhnen.
  • Eine effiziente Allokation von Kapital hat eben ihren Preis.

Chinas langer Marsch kommt in der Reifephase der Marktwirtschaft an.

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